Auch schwierige Gefühle zulassen

Zu viel des Guten: Wieso toxische Positivität so schädlich ist

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Kein Platz für Traurigkeit: Wenn negativen Gefühlen kein Raum gegeben wird, kann Positivität toxisch werden.

Als Anna Maas ihr erstes Kind bekam, ging es ihr nicht gut. „Ich hatte eine schwierige Geburt und die ersten Wochen Probleme, in meiner Mutterrolle anzukommen“, sagt sie. „Ich hatte einfach was ganz anderes erwartet.“ Und auch ihr Umfeld hatte etwas anderes erwartet. „Keiner wollte hören, dass es mir nicht gut ging“, sagt die 33-Jährige. „Da hieß es dann immer gleich: ‚Naja, sei doch froh. Immerhin ist dein Kind gesund und schau doch mal, wie süß es lächelt.‘“

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Die Tipps waren zwar nett gemeint, geholfen haben sie ihr allerdings nicht. Ganz im Gegenteil: „Das hat mich total unter Druck gesetzt, mich schnell wieder besser fühlen zu müssen“, sagt Maas. „Ich hatte das Gefühl, es liegt an mir und ich muss mich halt mehr zusammenreißen und an mir arbeiten, damit ich es auch genießen kann.“

Nur die guten Vibes

Warum die Ratschläge diese schwierigen Gefühle auslösten, konnte sie sich lange nicht erklären. Erst als Maas von „toxischer Positivität“ las, ergab alles Sinn. Das zentrale Merkmal des Phänomens ist der ausschließliche Fokus aufs Positive, während negative Gefühle bei sich und bei anderen weitgehend ausgeblendet werden.

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Neu ist das nicht: Bereits 2009 problematisierte etwa Barbara Ehrenreich mit „Bright-Sided: How the Relentless Promotion of Positive Thinking Has Undermined America“ die amerikanische Ideologie des positiven Denkens.

In den vergangenen Jahren verbreitete sich das Phänomen „toxic positivity“ auch im deutschsprachigen Raum immer mehr und Hashtags wie „Good Vibes Only“ verschärften in den sozialen Medien den einseitigen Fokus noch. Die Botschaft: Wenn Vibes, dann bitte nur die guten.

Anna Maas "Die Happiness-Lüge"

"Wenn man unangenehme Gefühle zulässt, wird's schneller wieder schöner": Anna Maas ergründet in ihrem Buch "Die Happiness-Lüge" das Phänomen "Toxische Positivität".

Dabei ist ein optimistisches Mindset nicht per se schädlich. Ganz im Gegenteil: Studien zeigen, dass sich Menschen mit einer positiven Lebenseinstellung schneller von Krisen erholen, seltener depressiv werden und länger leben. Und wer etwa an die heilende Kraft der Medikamente glaubt, fühlt sich besser – auch, wenn es sich nur um Placebos handelt. Und abgesehen davon, fühlen sich Gefühle wie Freude auch schlicht besser an. Was ist also das Problem?

Je mehr Positives desto besser?

Michaela Brohm-Badry setzt sich sehr viel mit Positivität auseinander. Die Professorin gilt als eine der renommiertesten Wissenschaftlerinnen für Positive Psychologie und ist Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Positiv-Psychologische Forschung.

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Die Positive Psychologie beschäftigt sich – im Gegensatz zur klinischen Psychologie – nicht mit Krankheits- und Heilungsprozessen der Psyche, sondern mit den Grundlagen und Bedingungen des guten Lebens. Es geht also darum, was Menschen, Organisationen und Gesellschaften dazu befähigt, sich bestmöglich zu entwickeln.

Das Phänomen der toxischen Positivität hat für die Professorin viel mit falsch verstandener Positiver Psychologie zu tun: „Das ist einer der größten Mythen, die uns begegnet: Je mehr Positives, desto besser“, sagt sie. „Aber wir gehen auch in der Positiven Psychologie davon aus, dass Menschen neben den positiven auch negative Gefühle zulassen sollten.“

Eine Verzerrung zum Negativen

Die Positive Psychologie lege aber verstärkt den Fokus auf das Positive, weil sich Menschen instinktiv eher auf das Negative fokussieren. „Evolutionär gesehen hat dieser Fokus auf die Wahrnehmung negativer Aspekte unser Überleben gesichert“, sagt Brohm-Badry. „Durch einen verstärkten Blick auf Positives versuchen wir, beide Blickwinkel in einem Gleichgewicht zu halten. Man kann sagen: Wir stellen emotionale Verhältnisse in den Mittelpunkt, bei dem Menschen besser aufblühen können.“

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Dass es Menschen mit einer optimistischen Einstellung besser geht als anderen, bestätigt auch sie: „Menschen mit einem höheren Positivitätsquotienten sind gesünder, machen steilere Karrieren und haben insgesamt bessere Entwicklungschancen für ihre Persönlichkeit.“

Folgen von toxischer Positivität

Toxisch werde es dann, wenn negativen Gefühlen kein Raum mehr gelassen werde: „Es vergiftet unser Leben, wenn wir uns ausschließlich auf das Gute fokussieren“, sagt die Professorin. „Wenn man alles, was negativ ist, verdrängt, wird man taub gegenüber seinen Emotionen – auch gegenüber den positiven. Weil wir ein Stück von uns selbst, von unserem tatsächlichen Empfinden abschneiden.“

Michaela Brohm-Badry, 2019 by LÊMRICH

"Es vergiftet unser Leben, wenn wir uns ausschließlich aus Positive konzentrieren": Michaela Brohm-Badry ist eine der renommiertesten Wissenschaftlerinnen der Positiven Psychologie.

Und das sei nicht nur problematisch in Bezug auf die eigene Psyche, sondern wirke sich auch auf die Qualität der Beziehungen insgesamt aus: „Wenn man die negativen Emotionen des anderen ausblendet, nimmt man den anderen nicht als Person wahr“, sagt Brohm-Badry. „Man akzeptiert ihn nicht mit der vollen Gefühlsskala, sondern funktionalisiert das Gegenüber darauf, selbst permanent ‚gut drauf‘ zu sein.“ Eine tatsächliche Verbundenheit, die mit vollständiger Annahme des anderen Menschen einhergehe, sei so gar nicht möglich.

Das Gegenteil von gut ist gut gemeint

Dabei sind die Intentionen hinter den Ratschlägen in der Regel gut. „Alle wollten natürlich, dass es mir nach der Geburt schnell besser geht“, sagt Anna Maas. Über ihre Erfahrungen hat sie ein Buch geschrieben, „Die Happiness-Lüge“ (Eden Books, 2021). Mit Expertinnen und Experten hat sie darin das Phänomen „Toxische Positivität“ ergründet und weiß heute, dass ihren negativen Gefühle Raum zusteht – auch, wenn sie darum erst kämpfen muss.

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Denn vielen Menschen fällt es eher schwer, sich mit Negativem auseinanderzusetzen. „Die Auseinandersetzung mit Negativität, Schmerz, Krankheit, Leid schwächt die Psyche“, sagt Brohm-Badry. „Ich kann mir vorstellen, dass das in Krisenzeiten eine Abwehrreaktion ist, um sich nicht noch zusätzlich zu belasten.“ Denn dafür brauche man Ressourcen, wie ein starkes Selbstwert- und Selbstwirksamkeitsgefühl und ein sicheres soziales Netz.

Raum für die unangenehmen Gefühle

Die Grundlagen dafür würden zwar in der Kindheit gelegt werden, seien aber auch im Erwachsenenalter formbar. „Aus motivationstheoretischer Sicht stärkt man sich selbst sehr, indem man sich Ziele setzt, die man dann auch tatsächlich erreicht“, sagt Brohm-Badry. „Also wer sich selbst immer wieder von seiner Wirksamkeit überzeugt, indem er eine Sache anfängt, dranbleibt und auch wirklich abschließt, der macht sich stark für schlechte Zeiten.“

Unangenehmen Gefühlen Raum zu geben, musste Anna Maas auch erst lernen. „Es ist gar nicht so einfach, nicht sofort mit einem super Ratschlag um die Ecke zu kommen“, sagt sie. „Man will ja, dass es der anderen Person schnell besser geht und eine Lösung für die Probleme anbieten. Dabei hilft es oft viel mehr, einfach nur zuzuhören, in den Arm zu nehmen und da zu sein.“

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Sie gehe heute viel gelassener mit dem Gefühlsspektrum um. „Ich merke, wenn ich selbst im Gespräch offen und ehrlich von allen Hoch- und Tiefpunkten erzähle, öffnen sich die Menschen meistens auch. Viele sind sogar erleichtert, dass auch vermeintlich negative Emotionen ausgesprochen werden dürfen“, sagt sie. Und sie ist sich heute sicher: „Wenn man unangenehme Gefühle zulässt, wird‘s meistens sogar schneller wieder schöner.“

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