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Hühner, Bienen und Gemüsebeet: Ein Stück Land in der Stadt

Hühner und ein Hahn in einem Garten

Hühner in den städtischen Innenhöfen sind keine Seltenheit mehr. Immer mehr Städter holen sich ein Stück Land in die Stadt.

Viele Städter versuchen, sich ein Stück Land in die Stadt zu holen, indem sie in ihre kleinen Stadtgärten Bienenstöcke aufstellen, ihre Karotten und Kartoffeln im Schrebergarten selbst anpflanzen oder sogar Hühner in die Innenhöfe holen. Michael Carl ist Gründer und Inhaber des Carl Institute for Human Future in Leipzig. Er widmet sich der Frage nach der Zukunft des Menschen in den Lebens- und Arbeitswelten der kommenden Jahre. Im Interview erläutert er, woher die „Landlust“ des Städters kommt.

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Herr Carl, die Städter entdecken zurzeit die Landwirtschaft wieder für sich: Sie mieten Hühner oder Bienen und legen Nutzgärten auf Parkplätzen an. Warum nur?

Hinter diesem Trend liegen gleich mehrere große Entwicklungen. Die erste war der Wechsel vom Land in die Stadt. Dieser Rückzug aus dem Ländlichen wird sich noch lange so fortsetzen. Die Dörfer werden entvölkert, die Städte dafür größer, voller und beengter. Gleichzeitig merken wir, dass wir in einer Welt leben, die sich immer schneller verändert und die auch immer stärker technisch geprägt ist. Das weckt im Menschen eine Sehnsucht nach Natur. Diese wiederum ist bei jedem von uns unterschiedlich stark ausgeprägt: Dem einen reicht es, hin und wieder die Zeitschrift „Landlust“ zu lesen, damit er zufrieden ist. Der Nächste schafft sich einen Garten an, andere halten neuerdings Hühner oder Bienen. Die gemieteten Bienen und Hühner sind sozusagen eine Antwort auf die Verdichtung des Lebens, die wir gerade erfahren.

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Aber passen Nutztiere dieser Art denn wirklich zum städtisch geprägten Leben? Die Hühner im Garten sind anfangs vielleicht eine schöne Vorstellung. In Wahrheit geht es um eine Menge Mist.

Wir müssen uns klarmachen, dass es dabei um eine symbolische Handlung geht. Dahinter steht keine wirkliche Rückkehr zur Natur oder dem ursprünglichen Ökosystem. So groß die Faszination des Nutztiers für den Städter auch sein mag, ein Hühnerstall im Garten wird die bisherige Versorgungskette mit Nahrungsmitteln nicht ersetzen. Man lebt auf diese Weise auch nicht im Einklang mit der Natur. Das beste Beispiel dafür sind die vielen Imker in den Städten – diese tragen mit ihren Wirtschaftsvölkern schließlich nicht zur Rettung der eigentlich gefährdeten Wildbienen bei.

Wie kommt dieser Widerspruch zustande?

Wenn wir über Natur in der Stadt sprechen, geht es immer auch um Identität. Der Mensch sucht stets nach Antworten auf die Frage, wer er ist und zu welcher gesellschaftlichen Gruppe er zählt. Wenn ich mir einen Hund anschaffe, treffe ich draußen auf der Straße andere Hundehalter und definiere mich als ein ebensolcher. Ich gehöre zu einer Gruppe. Auch die Bienen, Hühner und Stadtgärten sind ein Motor für die Identitätsbildung. Das ist sogar einer der wichtigsten Aspekte. Wir leben in Zeiten, in denen alles möglich ist. Jeder Mensch muss sich entscheiden, was er möchte, das ist bei aller Freiheit eine anstrengende Aufgabe.

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Wie passt die aktuelle Natursehnsucht mit dem Verlangen nach technischem Fortschritt zusammen, den wir ebenfalls gerade erleben? Etwa, wenn man an die Forderung nach flächendeckendem und schnellem WLAN denkt?

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Wenn wir sagen, wir möchten zurück zur Natur, ist das eine sehr eingeschränkte Sichtweise. Die Natur, die wir noch von unseren Großeltern kennen, wollen wir, wenn wir ehrlich sind, gar nicht erleben. Diese war schmutzig, stank und war für den Menschen aufgrund mangelnder Hygiene teilweise auch gefährlich, weil die Menschen die Ansteckung mit Krankheiten riskierten. Niemand von uns würde einfach so im Regenwald spazieren gehen. Das ist viel zu gefährlich. Projekte wie Vertical Farming oder aber ein Hühnerstall, in dem eine Kamera hängt, die das Leben der Hühner Tag und Nacht ins Internet überträgt, sind da stimmiger als so manche allzu romantische Vorstellung.

Kann die Natursehnsucht möglicherweise ein Motor dafür sein, dass der Mensch lernt, die Natur mehr zu schützen?

Ein Tier im Haus kann helfen, Kindern den Respekt vor Tieren zu vermitteln. Wenn wir vom Grundsatz getrieben sind, unseren ökologischen Fußabdruck möglichst gering zu halten, macht ein Hühnerstall im eigenen Garten absolut gar keinen Sinn. Lebensmittel lassen sich längst an anderer Stelle sehr viel nachhaltiger und sinnvoller produzieren als im eigenen Garten. Die Ökobilanz eines kleinen Hühnerstalls wird meist schlechter sein als die eines ökonomisch und ökologisch geführten Großbetriebs. Wenn man bedenkt, dass Generationen von Berliner Schulklassen zur Grünen Woche fahren, um dort herauszufinden, dass die Milch aus der Kuh kommt, ist ein Mietstall mit Hühnern eine sehr gute Idee. Es kommt auf das Motiv an.

Michael Carl steht an einem Tisch

Michael Carl ist Autor zahlreicher Studien, Trendanalysen und mehrerer Bücher. Der studierte Theologe und Journalist arbeitete viele Jahre für die ARD. Er hat drei Kinder und lebt in Leipzig.

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