Weißes Rauschen: Hilft es wirklich beim Einschlafen?
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Manchen Menschen hilft weißes Rauschen dabei, sich zu entspannen.
© Quelle: Samuel Rios/Unsplash
Regen prasselt auf das Dach eines Wohnwagens. Das Radio ist auf die falsche Frequenz eingestellt. Ein Fluss braust durch einen Landstrich. So beschreiben Menschen in den Kommentarspalten von Youtube ein Geräusch, das nichts von alledem ist: das weiße Rauschen (englisch: White Noise). Videos, in denen stundenlang nur ein gleichförmiges Rauschen zu hören ist, verzeichnen auf der Plattform teilweise Millionen Aufrufe.
Beim weißen Rauschen handelt es sich um „eine Mischung aller hörbaren Tonfrequenzen“, wie im Stangl-Lexikon für Psychologie nachzulesen ist. Oder einfacher ausgedrückt: White Noise klingt wie ein ziemlich eintöniges Rauschen. Trotzdem – oder, besser gesagt, genau deshalb – ist es aktuell sehr beliebt. Menschen schwärmen davon, wie gut es ihnen beim Einschlafen hilft.
„Hype ist übertrieben“
Schlafen, das scheint den Deutschen laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov schwerzufallen. Vier von zehn Befragten schätzen die Qualität ihres Schlafes als „gar nicht gut“ oder „eher nicht gut“ ein. Mehr als ein Drittel (34 Prozent) hat beim Einschlafen „häufig“ oder „sehr häufig“ Probleme. Kann ein monotones Rauschen ein Heilmittel für diejenigen sein, die sich nachts im Bett unruhig hin und her wälzen?
„Ich persönlich halte diesen Hype um das weiße Rauschen für übertrieben“, sagt Hans-Günter Weeß, Psychotherapeut und Leiter des Interdisziplinären Schlafzentrums des Pfalzklinikums in Klingenmünster. Im Schlafzentrum behandeln seine Kolleginnen, Kollegen und er Tausende von Patientinnen und Patienten quer durch alle Altersgruppen. Dass jemand davon berichtet, mit weißem Rauschen einzuschlafen, sei „ganz, ganz selten“.
Methoden zum Einschlafen
Im Endeffekt handele es sich bei White Noise um eine Methode von sehr vielen. Oder wie Weeß sagt: „Tausende Wege führen nach Rom.“ Um einschlafen zu können, konzentrieren sich manche Menschen auf ihre Atmung. Andere gleiten beim Hören von Podcasts oder des Fernsehers hinüber ins Land der Träume. Wieder andere unternehmen eine Fantasiereise: Gedanklich spazieren sie durch einen Wald, spüren den Wind auf der Haut und riechen das modrige Herbstlaub.
Es gibt eine Fülle solcher Methoden, die Menschen dabei helfen, abzuschalten, das eigene Gedankenkarussell zu stoppen – und sich zu entspannen. „Das Gehirn soll richtig intensiv mit angenehmen Inhalten beschäftigt sein, sodass es nicht in die Grübelei abgleitet“, erklärt Weeß.
Wer mit welcher Technik gut einschlafe, sei sehr individuell. „Das hat etwas mit der subjektiven Bewertung zu tun, welchen Bezug ich dazu habe“, sagt der Psychotherapeut – und liefert damit die Erklärung, warum Menschen das weiße Rauschen so unterschiedlich wahrnehmen. Für die einen klingt es wie Meeresrauschen. Andere empfinden es schlichtweg als nervigen Lärm.
Kunst mit Geräuschen
Der Hype um White Noise ist vielleicht neu. Das Umdeuten und Umfunktionieren von Alltagsgeräuschen ist es dagegen nicht. Ende der 1950er-Jahre komponierte der US-Amerikaner John Cage das Stück „Water Walk“. Er nutzt unter anderem eine Badewanne, einen Kochtopf und eine Gießkanne als Instrumente. Der zeitgenössische Geräuschkünstler Romain Perrot aka Vomir geht noch einen Schritt weiter. Seine Stücke, die er als „Harsh Noise Wall“ bezeichnet und die nach einer düsteren Version des weißen Rauschens klingen, soll man sich mit einem schwarzen Müllsack über dem Kopf anhören. „Es ist absolut großartig, einfach zu verschwinden in dieser Art Staubwolke in dir drin und dich selbst komplett zu vergessen“, schwärmt Perrot im Gespräch mit dem Fernsehsender Arte.
Als einer der ersten beschäftigte sich der Italiener Luigi Russolo mit der Ästhetik von alltäglichen Geräuschen. In seinem im Jahr 1913 veröffentlichten Manifest „L’arte dei rumori“ („Die Kunst der Geräusche“) vertritt er die These, dass erst mit der Erfindung der Maschinen im 19. Jahrhundert das Geräusch entstand. „Die Vergangenheit war eine einzige Stille“, schreibt Russolo.
Geräusche vor der Industrialisierung
So ganz stimmt das nicht. Zwar lärmten vor der Industrialisierung keine Züge, Fabriken oder Autos. Trotzdem war es des Nachts oft alles andere als still, weiß Philipp Osten. „Tendenziell gab es früher mehr Momente der Störung. Die Bedingungen für den Schlaf sind heute viel, viel besser“, sagt der Medizinhistoriker und Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
Ein eigenes Schlafzimmer hatte kaum jemand. Viele Menschen ruhten gemeinsam in einem Raum, hörten sich atmen und schnarchen. Oft schliefen die Menschen über ihrem Vieh. Rinder stöhnten, Gänse schnatterten und bei Sonnenaufgang weckte der Hahn die ganze Nachbarschaft. Auf befestigten Wegen klackerten die Hufe der Pferde und Räder der Kutschen. Unangenehme Gerüche und Kälte erschwerten das Schlafen – auch, weil auch nachts immer wieder Holz aufs Feuer nachgelegt werden musste.
Weißes Rauschen zum Arbeiten und Schummeln
Hätten die Menschen vor der Industrialisierung auch gut zum weißen Rauschen einschlafen können? Diese Frage kann der Medizinhistoriker nicht beantworten. Aber er hat eine Idee, wieso einige Menschen heutzutage zu White Noise besonders gut einschlafen. Die Bedingungen für das Schlafen sind zwar besser geworden. „Aber das Grundrauschen hat sich dadurch natürlich verringert“, sagt Osten. Kaum jemand hört nachts mehrere Menschen ruhig neben sich atmen oder ein Feuer prasseln. Das weiße Rauschen taugt dazu, die wenigen anderen Geräusche in der Nacht zu überdecken: zum Beispiel das plötzliche Knacken eines Holzbalkens oder das Flattern eines Vogels vor dem Fenster. „Einzelgeräusche gehen in der Kakophonie des weißen Rauschens unter“, sagt der Wissenschaftler.
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Wer durch die Kommentarspalten bei Youtube scrollt, findet noch andere Gründe für die Beliebtheit von White Noise. Manchen Menschen hilft es, ihren Tinnitus weniger wahrzunehmen. Mitarbeitende in Großraumbüros hören es mit Kopfhörern, um das Quatschen ihrer Kolleginnen und Kollegen zu übertönen und sich besser konzentrieren zu können.
Auch Schülerinnen und Schüler haben das weiße Rauschen für sich entdeckt. Einige schreiben, dass sie das Geräusch während des Onlineunterrichts im Homeschooling abspielen, um einen Ausfall der Technik vorzutäuschen – und sich so aus der Affäre ziehen, wenn sie ihre vergessenen Hausaufgaben vortragen sollen. Eines muss man dem White Noise lassen: Es klingt vielleicht monoton. Aber einsetzen lässt es sich äußerst variantenreich.