Kein Gewinner in Ankara – Erdogan hofft auf Auslandstürken
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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Frau Emine winken zu Anhängern in der Parteizentrale in Ankara, Türkei. Sowohl die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu als auch die oppositionsnahe Nachrichtenagentur Anka sahen Erdogan in der Nacht zum Montag vor seinem Herausforderer Kilicdaroglu. Demnach erhielt keiner der beiden mehr als 50 Prozent der Stimmen, was auf eine Stichwahl am 28. Mai hinauslaufen würde.
© Quelle: Ali Unal/AP/dpa
Ankara. Es ist ein Uhr morgens in Ankara, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Begleitung seiner Ehefrau Emine den Balkon des Hauptquartiers seiner AKP betritt. Die Wahllokale sind da schon seit acht Stunden geschlossen, ein Gewinner der Präsidentschaftswahl steht immer noch nicht fest. Erdogan liest vom Teleprompter ab, er spricht von einer der höchsten Wahlbeteiligungen in der fast hundertjährigen Geschichte der türkischen Republik. Von diesem Balkon aus hält Erdogan nach Wahlen seine Siegesreden. Kritikerinnen und Kritiker des 69-Jährigen haben befürchtet, er könnte sich schon vor einem endgültigen Ergebnis zum Gewinner dieser historischen Abstimmung erklären. So weit geht der Präsident nicht. Er betont aber, dass er weiterhin glaubt, die Wahl noch in der ersten Runde gegen den Kandidaten der Opposition, CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu (74), zu gewinnen.
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Kemal Kilicdaroglu, der 74-jährige Vorsitzende der Mitte-links-gerichteten, prosäkularen Republikanischen Volkspartei (CHP), spricht am Sonntag, 14. Mai 2023, in der Parteizentrale in Ankara.
© Quelle: -/AP/dpa
Opposition zweifelt Vorsprung Erdogans an
Vorausgegangen ist der nächtlichen Rede vor zahlreichen jubelnden Anhängern und Anhängerinnen ein wahrer Wahlkrimi. In Umfragen vor der Wahl hat Kilicdaroglu meist vorne gelegen. Am Wahlabend meldet die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu nach Auszählung der ersten Stimmen einen deutlichen Vorteil für Erdogan, den die Opposition umgehend anzweifelt. Je später der Abend wird, desto mehr schrumpft der Vorsprung des Amtsinhabers zusammen. Die Opposition wirft Erdogans AKP vor, deren Parteivertreter legten an den Wahlurnen überall dort Widerspruch gegen die Ergebnisse ein, wo Kilicdaroglu vorne sei, damit die Regierung möglichst lange als Sieger erscheine.
Kurz nach 23 Uhr Ortszeit fällt Erdogan dann auch bei Anadolu unter die Marke von 50 Prozent. Damit zeichnet sich eine Stichwahl zwischen ihm und Kilicdaroglu ab. Bei Anadolu erzielt Erdogan nach Auszählung von mehr als 97 Prozent der Stimmen knapp 49,5 Prozent, Kilicdaroglu knapp 45 Prozent. Auch die oppositionsnahe Nachrichtenagentur Anka sieht den Amtsinhaber in der Nacht zu Montag vorne. Der dritte Kandidat Sinan Ogan hat nie Chancen auf einen Sieg gehabt, erzwingt mit seinem Stimmenanteil von mehr als 5 Prozent nun aber voraussichtlich eben jene Stichwahl – weil dadurch keiner der anderen beiden Kandidaten auf die notwendige absolute Mehrheit kommt.
Erdogan hofft auf die Auslandstürken
Erdogan sagt bei seiner Balkonrede, er hoffe nun besonders auf die noch nicht ausgezählten Stimmen der 3,4 Millionen Auslandstürkinnen und -türken, bei denen er traditionell besser als in der Heimat abschneidet – sie machen mehr als 5 Prozent aller rund 64 Millionen Wahlberechtigten aus. Von den Wahlzetteln aus dem Ausland sind zum Zeitpunkt seiner Ansprache laut Anadolu weniger als die Hälfte ausgezählt, hier liegt Erdogan insgesamt mehr als 15 Prozentpunkte vor Kilicdaroglu. Bei den Türkinnen und Türken in Deutschland – mit rund 1,5 Millionen Wahlberechtigten die mit Abstand wichtigste Gruppe – ist Erdogans Vorsprung in der Nacht noch größer, was aber mit Vorsicht zu genießen ist, weil von dort gerade einmal etwas mehr als ein Viertel der Stimmen gezählt ist.
Ohnehin sind die Anadolu-Ergebnisse vorläufig und von der Wahlbehörde nicht bestätigt. Sollten sie aber Bestand haben, müsste Kilicdaroglu bei der zweiten Runde am Sonntag in zwei Wochen rechnerisch quasi alle Stimmen Ogans erhalten, um sich gegen Erdogan durchzusetzen – falls er nicht noch Anhänger des Amtsinhabers für sich gewinnen kann, was angesichts der verhärteten politischen Fronten kaum vorstellbar erscheint. Eine Ablösung Erdogans nach mehr als zwei Jahrzehnten an der Macht ist damit am Sonntag nicht wahrscheinlicher geworden. Was schon jetzt klar ist: In der Nationalversammlung bleibt das von Erdogans AKP geführte Parteienbündnis die mit Abstand stärkste Kraft.
„Wir wollen eine islamische Armee gründen“
Erdogans Anhängerinnen und Anhänger in Ankara feiern in der Nacht, als hätte ihr Idol bereits gesiegt. Autokonvois, aus denen Passagiere AKP- und Türkei-Flaggen schwenken, fahren hupend über die nahe Schnellstraße. Tausende Menschen haben sich in der Umgebung des AKP-Hauptquartiers versammelt, es herrscht Volksfeststimmung. Auf dem Gelände der Parteizentrale harren Hardcore-Fans des Präsidenten seit dem frühen Abend aus. Eine davon ist Gülizar Kasap, die Frau mit dem fliederfarbenen Kopftuch sagt über Erdogan: „Für die islamische Welt ist er eine Festung.“
Erdogan oder Kilicdaroglu? Stichwahl in der Türkei soll Entscheidung bringen
Auf dem Balkon seines Parteigebäudes in Ankara gab sich Erdogan am frühen Montagmorgen siegessicher.
© Quelle: Reuters
Kasap ist aufgeregt, als sie mit dem deutschen Reporter spricht, die 53-Jährige will unbedingt ihre Botschaften an die Außenwelt loswerden. Erdogan müsse die türkische Republik nach ihrem hundertjährigen Jubiläum am 29. Oktober in das nächste Jahrhundert führen, auch deswegen seien diese Wahlen so wichtig, betont sie. Ein Ziel: „Wir wollen eine islamische Armee gründen.“ Angeführt werden solle sie durch Erdogan, der der Welt beweisen werde, wie barmherzig er sei. Sollte es beispielsweise jemals zu einem Putsch in Deutschland kommen, sagt Kasap, dann werde er die Türen der Türkei für diejenigen öffnen, die fliehen müssten. „Er steht für Gerechtigkeit.“
Der Autokrat Erdogan hat im Wahlkampf wie üblich die islamische Karte gespielt. Kilicdaroglu hat versprochen, die Erosion der Demokratie rückgängig zu machen. Er will den Nato-Partner Türkei, der offiziell immer noch EU-Beitrittskandidat ist, wieder stärker nach Westen ausrichten. In der Nacht zu Montag ruft Kilicdaroglu seine Anhängerinnen und Anhänger dazu auf, die Wahlurnen nicht aus den Augen zu lassen – er traut der AKP nicht. Und er betont: „Wir bleiben hier, bis jede Stimme ausgezählt ist.“
Mitarbeit Omer Fidan