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Keine Sanktionen für Atomindustrie

Millionen für Putin: Europas gefährliche Uranabhängigkeit von Russland

Dutzende Atomkraftwerke in Europa sind von russischem Uran oder russischen Brennstäben abhängig.

Dutzende Atomkraftwerke in Europa sind von russischem Uran oder russischen Brennstäben abhängig.

Es war Anfang März, als eine russische II-76-Transportmaschine trotz des EU-Flugverbots in der Slowakei zur Landung ansetzte. Das Flugzeug, das in der Lage ist, schweres militärisches Gerät wie Panzer und Artilleriegeschütze zu transportieren, hatte Brennelemente für die vier russischen Kernkraftwerke in der Slowakei an Bord. Während die USA und die EU immer neue Sanktionspakete gegen Russlands fossile Energieträger beschließen, ist die Atomindustrie bis heute von Sanktionen verschont geblieben.

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Der Grund: Europa ist stark abhängig von russischem Uran. 20 Prozent stammen aus Russland, weitere 20 Prozent aus dem kremltreuen Kasachstan. Dort wird der Abbau und die Aufbereitung des Urans vom russischen Staatskonzern Rosatom betrieben. Ein Gigakonzern mit weit über 300 Tochterunternehmen, deren Verflechtungen bis tief nach Deutschland reichen.

Beinahe jeder zweite EU-Staat betreibt Atomkraftwerke, rund 100 Reaktoren sind es insgesamt. Nach Angaben der Europäischen Atomgemeinschaft Euroatom nimmt Russland durch den Uranhandel jährlich mehr als 450 Millionen Euro ein. Die Abhängigkeit von russischem Uran und Brennelementen ist in Mittel- und Osteuropa besonders groß. Hier befinden sich 18 von Russland gebaute und auf russische Brennelemente angewiesene Atomkraftwerke. Neben den Reaktoren in der Slowakei befinden sich zwei weitere Kernkraftwerke in Bulgarien, sechs in Tschechien, vier in Ungarn und zwei in Finnland. Die EU ist durch die AKWs in diesen fünf Ländern „signifikant verletzbar“, warnte Euratom. Eine aktuelle Analyse des österreichischen Umweltbundesamts kommt zum Ergebnis: „Bulgarien, Ungarn, Slowakei und Tschechien sind zu 100 Prozent von Brennelementen von Rosatom abhängig – Finnland zu 35 Prozent.“

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„Die Uranlieferungen aus Russland können diese Länder nicht kurzfristig ersetzen“, erklärt Wladimir Sliwjak von der russischen Anti-Atomkraft-Bewegung Ecodefense. Denn als einziges Unternehmen weltweit stellt Rosatom die sechseckigen Brennstäbe russischer Bauart für die Druckwasserreaktoren her, sagt er im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Zwar gibt es noch den US-Konzern Westinghouse, der mittelfristig Brennelemente für diese speziellen Reaktoren herstellen könnte. Doch weil die alten AKWs wohl höchstens noch zehn Jahre laufen, so Sliwjaks Schätzung, ist es für westliche Unternehmen alles andere als lukrativ, jetzt in die Entwicklung solcher Brennstäbe zu investieren. „Für diese Reaktoren gibt es keine Zukunft“, meint er. Die fünf EU-Länder können an ihrer Abhängigkeit nichts ändern und sind Russland ausgeliefert. Dass sie sich gegen ein Uranembargo aussprechen, verwundert kaum.

Bei Europas größtem Atomstromerzeuger Frankreich ist die Lage anders: Das Land produziert zwar seine Brennelemente selbst, erhält aber große Teile des Rohurans aus Russland und Kasachstan, wie Greenpeace Frankreich dokumentiert hat. „Frankreich ist sehr wohl in der Lage, den Kauf von Uran aus Russland zu stoppen“, glaubt Sliwjak. Die Situation ist für ihn vergleichbar mit Deutschlands Weg raus aus den russischen Gaslieferungen. Aber es fehle der politische Wille und die Unternehmen wollten nichts ändern, schließlich gebe es keine Sanktionen. „Frankreich hofft, dass Putin weiterhin so nett sein wird und Uran liefert. Aber das ist ein gefährlicher Irrtum.“ Sliwjak fürchtet, dass Putin nur auf einen guten Moment wartet, um die Uranlieferungen nach Europa zu stoppen. „Putin wird diese Abhängigkeit definitiv ausnutzen“, ist sich der russische Anti-Atomkraft-Aktivist sicher.

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2021 hat Frankreich rund 70 Prozent seines Stroms aus Atomkraft erzeugt. Bei der Lieferung von Uran an Frankreichs Atomkraftwerke gibt es eine enge Zusammenarbeit mit Deutschland. Die Brennelemente werden in der niedersächsischen Stadt Lingen hergestellt. Dort verarbeitet ein französischer Konzern russisches Uran, um es an Atomkraftwerke in Frankreich, Belgien, der Schweiz, Großbritannien, Spanien, Schweden, den Niederlanden und Finnland zu liefern. Sliwjak hat in der Vergangenheit bereits vor dem Gelände in Niedersachsen demonstriert. „Vielleicht brauchen sie etwas Zeit, um das russische Uran zu ersetzen, aber es gibt andere Lieferanten und es ist auf jeden Fall machbar.“ Der schwedische Energieriese Vattenfall hat bereits am ersten Tag des russischen Kriegs beschlossen, alle Uranimporte aus Russland zu stoppen und bis auf weiteres durch Importe aus Kanada und Australien zu ersetzen.

Im Frühjahr hatte das Europäische Parlament mit großer Mehrheit ein „sofortiges vollständiges Embargo für russische Importe von Öl, Kohle, Kernbrennstoff und Gas“ gefordert und wollte „die Zusammenarbeit mit russischen Unternehmen bei bestehenden und neuen Nuklearprojekten beenden“. Terry Reintke, Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA im Europaparlament, sagte dem RND, ihre Fraktion setzte sich weiter für „ein sofortiges Embargo auf Uranimporte und Nukleartechnologie aus Russland“ ein.

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Auch Deutschland arbeitet im Bereich der Kernenergie weiterhin mit Russland zusammen: Bei der Lagerung radioaktiver Abfälle aus Deutschland und dem Rückbau der Atomkraftwerke in Neckarwestheim und Philippsburg hat ebenfalls der russische Staatskonzern Rosatom seine Finger im Spiel. Denn die Tochterfirma Nukem Technologies führt diese Arbeiten in Deutschland aus.

Mehr als 30 Prozent der weltweiten Exporte an angereichertem Uran stammen aus Russland. Selbst die USA sind derzeit von Russlands Uran abhängig. Als die Sowjetunion zusammenbrach, unterzeichneten Russland und die USA ein Abkommen über die Lieferung von Uran aus alten Nuklearwaffen. Über viele Jahre hat Russland das 90-prozentige Uran aus den Waffen auf fünfprozentiges Uran für Brennelemente heruntergemischt und an die USA geliefert. Ob Russland schon damals darauf spekuliert hat, die USA von Uranlieferungen abhängig zu machen? Unklar. „Aber nachdem Wladimir Putin vor etwa 20 Jahren in Russland an die Macht kam, wird er herausgefunden haben, wie abhängig die USA von russischem Uran sind“, glaubt Sliwjak.

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In den USA gab es nie eine Abkehr von der Atomkraft, im Gegenteil. „Es gibt in den USA eine ganze Reihe an Konzepten für kleine Kernkraftwerke und einige nutzen Uran als Brennstoff“, sagt Clemens Walther, Leiter des Instituts für Radioökologie und Strahlenschutz an der Universität Hannover, dem RND. „Die Unternehmen entwickeln diese Konzepte aber nur zur Marktreife, wenn auch der Brennstoff gesichert ist.“ Die neue Generation von Kernreaktoren braucht eine besonders effiziente Art von Uranbrennstäben, die auf knapp 20 Prozent angereichert sind. Bisher wurden diese aber nur von Tenex hergestellt, einem Tochterunternehmen von Rosatom. Zwar haben auch die USA Möglichkeiten zur Urananreicherung, sagt Walther. Aber dafür benötigen die Unternehmen spezielle Lizenzen und Zertifizierungen. „Da Russland so große Überkapazitäten hat, kann es angereichertes Uran konkurrenzlos günstig anbieten und an die USA liefern.“ Zwischen 15 und 20 Prozent des Urans in den USA stammen derzeit aus Russland. Doch in der US-Politik gibt es nun immer mehr Forderungen, die heimische Uranproduktion zu fördern.

Wie systematisch Russland die geopolitische Strategie verfolgt, mit Atomenergie andere Staaten abhängig zu machen, zeigt sich eindringlich in Südafrika. Denn für ärmere Staaten ist der kostspielige Bau von Atomkraftwerken unmöglich und internationale Investoren scheuen den Einstieg in die Kernenergie in diesen Ländern. Als 2014 ein Vertrag zwischen Russland und Südafrika über den Bau von acht bis zehn Atomkraftwerke durch Rosneft öffentlich wurde, war das ganze Ausmaß des „Atomkolonialismus“ sichtbar.

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Frankreich verdient daran oft kräftig mit. Denn Rosatom nimmt laut Handelsblatt den Kerntechnikkonzern Framatom, das Energieunternehmen EDF und die Elektrofirma Schneider Electric häufig mit, wenn im Ausland neue AKWs gebaut werden. Demnach liefern die drei französischen Unternehmen Turbinen, Steuerungs- oder Sicherheitstechnik für die russischen Kraftwerke.

„Russland macht die Länder durch die Kraftwerke enorm abhängig“, sagt Aktivist Sliwjak, der diesen Coup aufdeckte und letztlich verhinderte. Nicht nur, dass Südafrika laut Vertrag für alle Atomunfälle haften sollte. Allein der Bau hätte 20 Jahre gedauert, dann wäre der Reaktor 60 Jahre auf russische Brennstäbe angewiesen und am Ende dauere es noch einmal Jahrzehnte, um den Reaktor stillzulegen. Über die gesamte Zeit wäre Südafrika von russischer Technologie, russischen Spezialisten und der russischen Lieferung von Brennelementen abhängig gewesen. „Russland wollte Südafrika abhängig von seinen Atomkraftwerken machen, wie es zuvor schon Deutschland von russischem Gas abhängig gemacht hat“, meint Sliwjak. „Für Russland ist das kein Geschäft, es ist Politik und eine ziemlich clevere Strategie, um sich Macht und Einfluss in der Welt zu sichern.“

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