Szenarien für das neue Jahr: Endet 2023 der Krieg in der Ukraine?
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/STPZZJR4WRABJLEAGDEOLRPQFM.jpg)
Russland trainiert neue Soldaten für den Krieg in der Ukraine im Nachbarland Belarus.
© Quelle: IMAGO/ITAR-TASS
Als Russland am 24. Februar seinen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine mit Hunderttausenden Soldatinnen und Soldaten begann, ahnte wohl niemand, dass dieser brutale Krieg auch mehr als zehn Monate später noch andauern sollte. Wenige Tage vor Weihnachten zeigte sich UN-Generalsekretär António Guterres mit Blick auf die Krisen in der Welt aber optimistisch, dass es im Verlauf des kommenden Jahres zu Frieden in der Ukraine kommen könnte. Gespräche seien derzeit zwar nicht in Aussicht, aber es müsse alles getan werden, um den Krieg bis Ende 2023 zu stoppen. Doch wie realistisch ist diese Hoffnung?
Die Antwort hängt von vielen Faktoren ab: Weitet der Westen seine Militärhilfen an die Ukraine aus und welche Waffen erhält die ukrainische Armee von den westlichen Partnern? Schafft es Russland, seine strukturellen Probleme in der Armee, wie etwa bei der Logistik, zu beheben? Die Optimisten unter den Militärexpertinnen und ‑experten schätzen, dass der Ukraine im kommenden Jahr die Rückeroberung der 2014 völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim gelingen wird. „Ich prognostiziere, dass Putin als Nächstes die Schlacht um die Krim im kommenden Sommer verliert“ erklärte US-General Ben Hodges. Anschließend verliere Putin den Machtkampf im Inneren des Kremls, so Hodges hoffnungsvoll.
Die Pessimistinnen und Pessimisten befürchten, dass Russland eine neue Großoffensive im Frühjahr beginnen und weite Teile der von der Ukraine zurückeroberten Gebiete wieder einnehmen wird. Der ukrainische Oberkommandierende Walerij Saluschnyj geht von einem Großangriff „im schlimmsten Fall Ende Januar“ aus. Die Russen würden rund 200.000 frische Soldaten dafür ausbilden. Das Ziel Putins sei, wie zu Beginn des Krieges, bis zur ukrainischen Hauptstadt vorzustoßen. „Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie Kiew erneut angreifen werden“, sagte Saluschnyj.
Doch führende Militärexperten und ‑expertinnen sind skeptisch, dass es so weit kommen wird. „Es ist außerordentlich unwahrscheinlich, dass ein solcher Angriff erfolgreich sein wird“, so das Institute for the Study of War in einem Bericht. Diese Einschätzung teilt auch Claudia Major, Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). „Zu einem Landsturm auf Kiew ist Russland militärisch derzeit nicht in der Lage“, sagte sie dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Trotzdem könnten die Russen der Ukraine schwerwiegende Verluste zufügen und sie ausbremsen. Auch einen Angriff auf Moldau im Frühjahr 2023, wie ihn der Geheimdienst des Landes befürchtet, hält die Expertin für unwahrscheinlich. Russland würden schlichtweg die militärischen Fähigkeiten dazu fehlen.
Russland verzeichnet laut Ukraine mehr als hunderttausend tote Soldaten
Die Zahl der Kriegstoten wächst. Russland hat nach Angaben des ukrainischen Generalstabs in seinem Angriffskrieg nun mehr als 100.000 Soldaten zu beklagen.
© Quelle: dpa
Am wahrscheinlichsten sei es, dass sich die Situation festfährt, erläutert der Militärexperte Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr in München im Podcast Sicherheitshalber. Putin wolle den Krieg aussitzen, da er überzeugt sei, die größere Geduld zu haben. „Alle Zeichen stehen darauf, dass es noch sehr lange dauern wird“, so Sauer.
Erkennen lässt sich diese Strategie bereits seit einigen Wochen: Russland spielt auf Zeit, um sein Militär aufzurüsten und neue Soldaten auszubilden. Auf dem Schlachtfeld konnten die Russen seit Herbst keine größeren Geländegewinne mehr verbuchen. Dafür lösen sie mit einem Bombenhagel auf die Energieinfrastruktur der Ukraine und durch mit Sprengstoff beladene Kampfdrohnen eine humanitäre Katastrophe in der Ukraine aus. Diese Versuche Russlands, die Ukraine zurück an den Verhandlungstisch zu zwingen, gehen einher mit einer Vielzahl an Stimmen, die eine Rückkehr zur Diplomatie und einen kremlfreundlichen Kompromissfrieden fordern.
Doch die Ukraine weiß, dass Verhandlungen keine Option sind. Sie muss kämpfen, bis alle Gebiete befreit sind. Expertin Major: „Die Ukraine hat nur die Wahl zwischen Krieg und Vernichtung: Krieg, also die russisch besetzten Gebiete zu befreien, oder unter russischer Besatzung – wie in Irpin oder Isjum, vernichtet zu werden“, sagt sie dem RND. Eine Wahl zwischen Krieg und Verhandlungen habe die Ukraine daher nicht.
Aus diesem Grund pocht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf den Abzug aller russischen Soldaten aus der Ukraine, auch von der Krim und im Donbass. Er hatte schon vor einigen Wochen eine Friedensformel mit zehn Punkten vorgestellt, die neben dem Abzug aller Truppen Russlands auch Reparationsforderungen und eine sichere Energieversorgung beinhaltet. Russland wollte von alledem nichts wissen und setzt stattdessen auf die Macht des Stärkeren.
+++Alle Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine im Liveblog+++
Zuletzt ließ Putin aber vermeintlich versöhnlichere Töne anklingen. „Alle bewaffneten Konflikte enden mit Verhandlungen“, sagte der Kremlchef in Jekaterinburg. Doch kein Experte und keine Expertin glaubt, dass Putins Verhandlungsabsichten auch nur einen Funken Wahrheit haben. Jeder Waffenstillstand wäre nur eine Verschnaufpause für die russischen Truppen, bevor sie mit dem nächsten Angriff beginnen. „Es ist ein Vernichtungskrieg“, machte SWP-Expertin Major deutlich.
„Der Krieg wird noch lange Zeit dauern“, so ihre Einschätzung. Sie rechnet nicht mit einem Ende der Kämpfe im nächsten Jahr. Jedenfalls nicht, wenn sich die militärische Unterstützung des Westens nicht maßgeblich verändert.