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Gegenoffensive angekündigt

Die Ukraine hält trotz hoher Verluste erbittert an Bachmut fest – welche Strategie verfolgt sie?

Ein ukrainischer Soldat der 24. Brigade steht am 10. März an der südlichen Frontlinie von Bachmut.

Ein ukrainischer Soldat der 24. Brigade steht am 10. März an der südlichen Frontlinie von Bachmut.

Trotz der brutalen Kämpfe entlang der mehr als 1000 Kilometer langen Frontlinie hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Reise in die umkämpften Gebiete fortgesetzt. Nach einem Besuch der Streitkräfte nahe Bachmut und Charkiw reiste Selenskyj am Donnerstag in das ebenso frontnahe südukrainische Gebiet Cherson. Dort besichtigte er die Reparaturarbeiten an einem durch Beschuss beschädigten Umspannwerk. Die russischen Streitkräfte hatten sich im November im Oblast Cherson auf das Ostufer des Flusses Dnipro zurückgezogen und beschießen von dort täglich das gegenüberliegende Flussufer.

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Das Tempo der russischen Offensive im Raum Bachmut geht nach Einschätzung des US-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) zurück. Der Befehlshaber der ukrainischen Landstreitkräfte, Olexandr Syrskyj, glaubt sogar, die russischen Einheiten seien bald am Ende ihrer Kräfte und kündigte Gegenoffensiven an. „Wir werden recht bald diese Gelegenheit nutzen, wie wir es seinerzeit bei Kiew, Charkiw, Balaklija und Kupjansk gemacht haben“, schrieb er auf Telegram.

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Doch es könnte sich auch um eine Ablenkung handeln. Der Militäranalyst Niklas Masuhr vom Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich sagt im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): „Dass die Ukraine Offensiven in gewissen Sektoren ankündigt, ist das eine – ob sie dies dann wirklich tut, oder woanders angreift, ist das andere.“ Er weist darauf hin, dass die Ukraine beispielsweise schon im Herbst Gegenoffensiven im Norden und Süden kombiniert hatte.

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Mehr als 400 Milliarden Euro für Wiederaufbau der Ukraine nötig
KYIV REGION, UKRAINE - MARCH 22 , 2023 - The destroyed educational building of the Rzhyshchiv Vocational Lyceum, Rzhyshchiv, Kyiv Region, central Ukraine. Russian nighttime drone attack destroys dormitories and educational building of vocational lyceum in Rzhyshchiv PUBLICATIONxNOTxINxRUS Copyright: xVolodymyrxTarasovx

Russland setzt seinen Krieg gegen die Ukraine fort, ein baldiges Ende der Gefechte ist nicht abzusehen.

Dass die ukrainische Militärführung Bachmut trotz hoher Verluste nicht aufgibt, könnte auch an der Sorge vor einem noch größeren russischen Durchbruch liegen, meint Masuhr. Wie stark und tief die ukrainischen Verteidigungsstellungen westlich von Bachmut sind, sei unklar. „Die Ukrainer kalkulieren möglicherweise, dass sie von der nächsten Verteidigungslinie schlechtere Bedingungen für eine zukünftige Gegenoffensive haben“, erklärt Masuhr.

Im Norden von Bachmut führte die russische Armee am Donnerstag kleinere Angriffe durch, ohne aber neues Gelände einnehmen zu können. Unbestätigten Berichten zufolge bauten die russischen Streitkräfte neue Verteidigungsstellungen gegen einen potenziellen Gegenangriff der Ukraine. Im Süden von Bachmut kommen die Russen ebenfalls kaum voran. Das ISW berichtet von „nur geringfügigen Fortschritten auf die Außenbezirke“ und weniger Gefechten im Stadtzentrum.

„Seit die russischen Truppen die Anhöhen nördlich und südlich von Bachmut eingenommen haben, liegt das Verlustverhältnis bei den Kämpfen zuungunsten der Ukraine“, erläutert der Schweizer Militäranalyst Masuhr. Bachmut sei für die Ukrainer kein Ort mehr, wo sie die Russen zu günstigen Konditionen abnutzen könnten. „Jetzt gerade sind auch die Nachschubwege der Ukrainer unter Beschuss und das erschwert es, neue Soldaten nach Bachmut zu bringen.“ Für die Ukraine könne es beispielsweise plausibel sein, sich jetzt Zeit zu verschaffen und Gegenangriffe vorzubereiten, auch wenn das mit hohen Verlusten in Bachmut einhergehe.

Bachmut ist in erster Linie für Russland wichtig, um endlich einen Erfolg in der Ukraine vorweisen zu können, stellt die Sicherheitsexpertin Hanna Shelest vom ukrainischen Thinktank Ukrainian Prism in einem Expertentalk klar. „Es ist ein symbolischer Sieg für die russische Regierung, von dem sie so viel gesprochen hat.“ Die Ukraine versuche nicht nur, die russischen Soldaten im Raum Bachmut auszuschalten, sondern wolle auch die wichtigen Logistikketten und Munitionslager ins Visier nehmen.

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Der britische Geheimdienst vermutet, dass russische Einheiten aus dem Raum Bachmut in andere Richtungen verlagert wurden. Russischen Militärbloggern zufolge soll es Operationen im rund 70 Kilometer südlichen Avdiivka geben. „In Avdiivka könnten die Russen versuchen, die Front zu durchbrechen oder sogar darüber in einer Zangenbewegung die ukrainischen Truppen einzukreisen“, sagt Masuhr. Ein Einschließen der ukrainischen Soldaten hätte seiner Einschätzung zufolge den durchschlagendsten Effekt, gerade durch das russische Übergewicht an Artillerie. Das ISW rechnet nicht mehr damit, dass Russland Offensivoperationen in neue Richtungen gelingen werden, da die gesamte russische Frühjahrsoffensive bereits kurz vor ihrem Höhepunkt angelangt sei.

Die lange Frontlinie von der Ostukraine bis in den Süden des Landes hat sich zuletzt kaum verändert. „Im Krieg hat sich eine Pattsituation eingestellt, die nun schon seit einigen Monaten anhält“, sagt Douglas Lute, Generalleutnant a. D. der US Army und ehemaliger US-Botschafter bei der Nato im Expertentalk. Seit dem bedeutenden Vorstoß der Ukraine im Raum Cherson habe es an der Front immer nur kleinere Geländegewinne von wenigen Kilometern gegeben, aber keine von operativer Bedeutung. „Wir sehen einen Zermürbungskrieg mit großen Verlusten bei den russischen und auch den ukrainischen Streitkräften.“ Es gehe nur noch darum, wer das größere Durchhaltevermögen besitze.

Militäranalyst Masuhr betont jedoch, dass es noch mehr Faktoren als den Frontverlauf gibt, die in der Ukraine entscheidend sind. „Im Moment bauen die ukrainischen Streitkräfte Reserven auf, um im Frühjahr Gegenoffensiven durchzuführen.“ Inwieweit Russland es geschafft hat, über Bachmut ukrainische Truppen abzunutzen und die Ukraine zu zwingen, ihr zukünftiges Offensivpotenzial für die Verteidigung von Bachmut zu opfern, werden laut dem Militäranalysten die nächsten Wochen zeigen.

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