Wahlduell zwischen Erdogan und Kilicdaroglu: „Alles wird sehr schön werden“
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Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der CHP-Partei und Präsidentschaftskandidat der Nationalen Allianz, wirft seinen Stimmzettel in einem Wahllokal in eine Wahlurne. In der Türkei haben am Sonntag die Parlaments- und Präsidentenwahlen begonnen.
© Quelle: Uncredited/AP/dpa
Ankara. Zwei Stunden lang wartet Türkan Soysal vor der Arjantin-Grundschule in Ankara auf Kemal Kilicdaroglu. Der Präsidentschaftskandidat der Opposition in der Türkei will am späten Sonntagvormittag in dem Schulgebäude in der Hauptstadt seine Stimme abgeben.
Soysal ist 89 Jahre alt, sie hat ein Gedicht für den Politiker geschrieben, das sie ihm überreichen will – darin preist sie die Tapferkeit und den Mut des 74-Jährigen. Die glühende Anhängerin des säkularen Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk macht kein Geheimnis daraus, dass sie sich nichts sehnlicher wünscht als die Abwahl der islamisch-konservativen Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan. „Ich habe in meinem Leben viele Regierung erlebt“, sagt sie. „Aber so eine habe ich noch nie gesehen.“
„Kilicdaroglu – Hoffnung des Volkes“, skandieren die Anhänger des Erdogan-Herausforderers
Um 11.25 Uhr ist es so weit, Kilicdaroglu ist fünf Minuten zu früh am Wahllokal. Zahlreiche Menschen warten hier auf ihn, Beifall brandet auf, als der Chef der größten Oppositionspartei CHP den Schulhof betritt. Seine Anhänger skandieren „Kilicdaroglu – Hoffnung des Volkes“, „Präsident Kilicdaroglu“, „Recht – Gesetz – Gerechtigkeit“. Ein weiterer Sprechchor lautet „Alles wird sehr schön werden“, einige Menschen formen dabei Herzen mit ihren Händen. Dieser Spruch wurde vor allem durch den CHP-Politiker Ekrem Imamoglu bekannt, der 2019 die Bürgermeisterwahl in Istanbul gewann. Erdogan ließ die Wahl annullieren. Im zweiten Durchgang bekam Imamoglu noch mehr Stimmen.
Das Hauptquartier von Erdogans AKP ist nur eine gute Viertelstunde zu Fuß von der Schule entfernt, in der Kilicdaroglu wählt. Ak heißt auf Türkisch weiß, entsprechend ist der mehrstöckige Bau in dieser Farbe gehalten. Riesige Flaggen mit Erdogans Konterfei hängen von den Seitenflügeln des Gebäudes, „Der richtige Mann zur richtigen Zeit“ lautet die Beschriftung. Auf dem Parkplatz stehen Wahlkampfbusse mit Erdogans Konterfei. Am Abend werden sich hier Anhänger des Ausnahmepolitikers versammeln, der die Türkei seit mehr als 20 Jahren regiert – erst als Ministerpräsident, dann als Präsident. Seit Atatürk hat niemand die Türkei stärker geprägt als er.
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Recep Tayyip Erdogan (M. r.), Präsident der Türkei und Präsidentschaftskandidat, und seine Frau Emine (r.) sprechen zu Anhängern nach der Stimmabgabe in einem Wahllokal in Istanbul.
© Quelle: Umit Bektas/Pool Reuters/AP/dpa
Noch stehen hier vor allem Polizisten, die vom Reporter verlangen, Fotos von der Parteizentrale wieder zu löschen, weil Sicherheitskräfte darauf zu sehen sind. Auf der Rangliste der Pressefreiheit ist die Türkei unter Erdogan auf Platz 165 von 180 abgestürzt, zahlreiche regierungskritische Journalisten sind im Gefängnis. Auf der zum Parkplatz gewandten Seite der Parteizentrale verläuft über die gesamte Breite ein Balkon. Von hier aus hält Erdogan in den Wahlnächten in der Regel vor jubelnden Anhängern seine Siegesreden.
Wird Erdogan sein Amt verteidigen können?
In der Nacht zu Montag deutet sich an, dass die Entscheidung über einen Wahlsieger noch auf sich warten lassen dürfte. Nach Auszählung eines Großteils der Stimmen rutscht Erdogan auch bei der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu unter die 50-Prozent-Marke, am frühen Abend hatte er noch deutlich besser gelegen. Die Opposition hat die hohen Zahlen von Beginn an angezweifelt. Kilicadaroglu liegt nach Mitternacht laut Anadolu bei knapp 45 Prozent. Hintergrund ist, dass bei der Wahl am Sonntag mit Sinan Onan noch ein dritter, aber aussichtsloser Bewerber kandidiert hat, der mehr als 5 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte. Wenn weder Erdogan noch Kilicdaroglu auf eine absolute Mehrheit kommen, wird am Sonntag in zwei Wochen in einer Stichwahl über den neuen Präsidenten entschieden.
Erdogan hat zwar angekündigt, eine mögliche Niederlage zu akzeptieren. Bei der Opposition ist das Misstrauen dennoch groß, ob der Amtsinhaber – der sich in den vergangenen gut zwei Jahrzehnten vom Reformer zum Autokraten gewandelt hat – tatsächlich seine Macht aufgäbe. Nicht zuletzt die Wahlwiederholung in Istanbul hat gezeigt, dass Erdogan fragwürdige Tricks in petto hat. Für Unruhe sorgt auch, dass Innenminister Süleyman Soylu die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom Sonntag vorab als „politischen Putschversuch des Westens“ verunglimpft hat.
Erdogan setzte im Wahlkampf staatliche Ressourcen ein
Schon der Wahlkampf verlief – wie in der Türkei seit Langem üblich – nicht fair: Erdogan hat dafür staatliche Ressourcen eingesetzt, was ihm einen erheblichen Vorteil verschafft hat. Außerdem kontrolliert sein Umfeld die große Mehrheit der Medien, in denen vor allem Erdogan und seiner AKP eine Bühne geboten wird.
Im Staatssender TRT kam Erdogan im vergangenen Monat nach Angaben von Oppositionsvertretern in der Rundfunkaufsichtsbehörde auf fast 33 Stunden Sendezeit, Kilicdaroglu dagegen auf gerade einmal 32 Minuten. Am Wahltag selbst sind zahlreiche nationale und internationale Wahlbeobachter im Einsatz, darunter auch Abgeordnete des Bundestags.
Die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarats wollen erst am Tag nach der Wahl eine Bilanz ziehen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Frank Schwabe leitet die Delegation des Europarats und beobachtet die Wahl in Ankara und Umgebung, er sagt dem RND am Sonntagnachmittag: „Man spürt, dass den Menschen bewusst ist, dass das eine enge Geschichte ist, die große Auswirkungen auf die Zukunft des Landes hat. In dem einen oder anderen Wahllokal merkt man schon eine angespannte Stimmung.“ Die SPD-Abgeordnete und Wahlbeobachterin Derya Türk-Nachbaur berichtet aus Ankara, die Menschen zeigten sich aufgeschlossen und kooperativ. „Meine persönlichen Erfahrungen sind bislang okay.“
Wahlbeobachter der Opposition: „Generell sieht die Lage bis jetzt gut aus“
Der türkische Anwalt Murat Deha Boduroglu beobachtet die Wahl für die Opposition in Istanbul, unter anderem ist er in Kasimpasa im Einsatz, also in Erdogans Heimatviertel. In den Vierteln, wo er gewesen sei, habe er bislang keine Unregelmäßigkeiten festgestellt, sagt er am Sonntagmittag dem RND. „Generell sieht die Lage bis jetzt gut aus, zumindest in diesen Stadtteilen.“ Einig seien sich Wahlbeobachter und Parteivertreter in den Wahllokalen darin, dass die Beteiligung deutlich höher liege als bei vergangenen Wahlen.
Boduroglu hofft auf eine Abwahl Erdogans. Die Türkei sei nach der Verfassung zwar ein Rechtsstaat, erinnere in der Praxis wegen der harten Repressionen inzwischen aber eher an einen Polizeistaat, beklagt der Anwalt. Die Gerichte funktionierten nicht. „Die Menschen, die Unrecht sehen, können nichts dagegen tun. Wer protestiert, kommt in Untersuchungshaft.“ Der 53-Jährige fügt hinzu: „Das ganze Land ist inzwischen traumatisiert.“
Mitarbeit: Omer Fidan