„Niemand ist hier darüber glücklich“: Wie Russland auf die Teilmobilmachung reagiert
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Ein Bild von 2007: Ein junger Rekrut, der zum Militärdienst einberufen worden ist, umarmt seine Mutter am Bahnhof bei der Abreise in die Stadt Kemerowo in Westsibirien.
© Quelle: Maxim Shipenkov/epa/dpa
Moskau. Es ist nicht so wie am 1. August 1914. Als Kaiser Wilhelm II. damals vom Balkon des Berliner Stadtschlosses die Mobilmachung des deutschen Heeres und der Marine angekündigte, hielt er seine Rede vor einem begeisterten Volk. Gleich in den nächsten Tagen zogen aufgeputschte Soldaten in die mörderische Abnutzungsschlacht des Ersten Weltkriegs, der ihnen unsägliches Leid und oft genug den Tod bringen sollte.
Von einer solchen Euphorie ist Moskau an diesem 21. September 2022 weit entfernt. Soeben hat Präsident Wladimir Putin die Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte angekündigt. Ziel der Maßnahme sei die Verteidigung russischer Gebiete, sagte der Kremlchef in einer Fernsehansprache am Mittwochmorgen, in der er die Mobilmachung begründete. Es gehe darum, die ostukrainische Region Donbass „zu befreien“. Der Westen habe keinen Frieden zwischen der Ukraine und Russland gewollt, vielmehr wolle er Russland zerstören. Russland werde alle seine Ressourcen nutzen, um „sein Volk zu verteidigen“.
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Soweit kann die Hotel- und Gaststättenfachfrau Lena ihrem Staatschef folgen: „Das ist alles der Fehler von Joe Biden“, sagt sie. „Er ist derjenige, der die Ukraine mit Waffen ausstattet, um Russland zu bekämpfen.“
Demos in Russland nach Teilmobilmachung
Menschenrechtsgruppen sprachen von mehr als 100 Festnahmen in mindestens 15 Städten im ganzen Land.
© Quelle: Reuters
In Moskau dominiert nach wie vor der Alltag
Die Teilmobilmachung löst bei ihr deswegen aber bestimmt keine Triumphgefühle aus. Der Impuls, es der Ukraine und dem Westen nun endlich zu zeigen, wird deutlich von der Sorge um die zwei Brüder überdeckt. Denn diese haben beide einen Militärdienst abgeleistet und gehören damit zum Kreis jener 300.000 Reservisten, die Putins Ansprache zufolge zunächst eingezogen werden sollen.
Die Sorge der 47-Jährigen um ihre Brüder dürfte trotzdem unbegründet sein. Der jüngere von ihnen ist jenseits der 50, der ältere ist schon über 60 Jahre alt. Die Teilmobilmachung werde aber nur Männer unter 50 betreffen, sagte der Generalleutnant und Dumaabgeordnete Andreij Gurulew der staatlichen Nachrichtenagentur Interfax.
Auch nach dieser Mobilmachung ist in Moskau von Kriegsgeschrei – wie schon zu Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine im Februar – verhältnismäßig wenig zu hören. Beim Lebensmittelhändler um die Ecke gehen die Dinge ihren ganz normalen Gang, während die politisch Verantwortlichen über die Medien kurz zuvor den Eindruck vermittelt haben, als handle es sich bei der Maßnahme um einen kleineren Eingriff: Putin betonte in seiner TV-Rede etwa, es gehe um eine Teil-, also keineswegs um eine Generalmobilmachung.
Wie die Mobilisierung ablaufen soll
In einem Interview mit dem staatlichen Nachrichtensender Rossija-24 war Verteidigungsminister Sergej Schoigu die Feststellung wichtig, dass die Mobilisierungsreserve Russlands bei knapp 25 Millionen Menschen liege: „Die Teilmobilmachung betrifft 1,1 Prozent der Reservetruppe“, stellte er klar.
In der wichtigsten Nachrichtensendung des Landes auf dem Staatssender Perwej Kanal gingen Walentina Matwijenko und Wjatscheslaw Wolodin, Sprecherin und Sprecher des Ober- sowie Unterhauses des russischen Parlaments, allerdings relativ ausführlich auf verschiedene Aspekte der Teilmobilmachung ein. Matwijenko sprach in der ersten Sitzung ihrer Kammer nach der Sommerpause darüber, wie eingezogene Reservisten sozial abgesichert werden könnten. Wolodin fragte wiederum ganz offen in die Runde der Duma, welcher Parlamentarier und welche Parlamentarierin von der Maßnahme persönlich betroffen sein könnte.
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Schikane und Schlagabtausch: Was an der Grenze der EU zu Russland passieren kann
Bei einem Grenzübertritt von der EU nach Russland piesacken die europäischen Zöllner erst die ausreisenden Russinnen und Russen und die russischen Grenzwächter anschließend einreisende EU-Bürgerinnen und -Bürger. Die baltischen Länder und Polen gehen seit dem heutigen Montag noch einen Schritt weiter – wohl unter Verletzung von geltendem EU-Recht. Ein persönlicher Erfahrungsbericht von Moskau-Korrespondent Paul Katzenberger.
Unterdessen veröffentlichte das unabhängige Exilnachrichtenportal Meduza erste Informationen zu Details über den Ablauf der Mobilisierungsmaßnahme. Demnach seien vor allem die Gouverneure in den Republiken, Oblasten und anderen Föderationssubjekten des Landes dafür zuständig: „Niemand ist hier darüber glücklich“, sagte eine mit den Gesprächen in der Region vertraute Person zu Meduza: „Aber so läuft das nun mal hier: Wir kriegen die Zahlen, und dann erledigen wir den Job.“
Zunächst werden Freiwillige gesucht, Zwangsmaßnahmen danach aber nicht ausgeschlossen
Ein anderer örtlicher Ansprechpartner erklärte, dass die unangenehmen Aufgaben schon während der Pandemie auf ihn und seine Kolleginnen und Kollegen abgewälzt worden seien: „So ist das bei uns.“
Eine Quelle aus der Präsidialverwaltung verriet Meduza, dass erst versucht werden würde, Freiwillige für den Armeedienst zu gewinnen. Wer sich verweigere, werde zunächst nicht zur Unterschrift gezwungen, aber wenn nicht genügend Leute gefunden würden, werde sich der Druck erhöhen: „Manche Leute können schließlich nicht lesen“, sagte er.
Nach Ansicht der Moskauer Politologin Lilia Schewtsowa versucht der Kreml, mit der Teilmobilisierung gegensätzliche Interessen unter einen Hut zu bekommen: „Sie wollen die Kampfkraft in der Ukraine erhöhen“, sagte sie dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), „weil das nach den militärischen Niederlagen und der heftigen Kritik von loyalen Bellizisten im Inland daran notwendig ist“. Gleichzeitig solle vermieden werden, die Bevölkerungsmehrheit, die den Kampfhandlungen in der Ukraine nur passiv gegenüberstehe, allzu sehr in die Auflehnung dagegen zu treiben.
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