Soziales Pflichtjahr für Schulabgänger? Vorstoß des Pflegerats entfacht neue Diskussion
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Aufgrund des allgemeinen Fachkräftemangels in sozialen Berufen ist die Diskussion um ein verpflichtendes soziales Gesellschaftsjahr für Schulabgängerinnen und Schulabgänger neu entfacht. (Symbolbild)
© Quelle: dpa
Hannover/Berlin. RS-Virus bei den Kindern, Grippe bei den Erwachsenen: Die aktuelle Welle an Atemwegsinfekten treibt Deutschlands Krankenhäuser an ihr Belastungslimit. Vor allem die Personalnot in der Pflege verschärft die Situation. Aber auch in anderen sozial arbeitenden Bereichen fehlt es an gut ausgebildeten Beschäftigten. Um die Fachkräfte in Sozial- und Pflegeberufen von morgen zu gewinnen, hat sich der Deutsche Pflegerat (DPR) offen für ein „verpflichtendes soziales Gesellschaftsjahr“ für alle Schulabgängerinnen und Schulabgänger gezeigt – und damit eine für beendet geglaubte Diskussion neu losgetreten.
„Wir müssen als Gesellschaft wieder zusammenrücken und lernen, dass wir uns im Sozialsystem wieder verstärkt den Kranken, den Kindern und Schwachen widmen müssen“, sagte DPR-Präsidentin Christine Vogler am Mittwoch dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Das zeige nicht zuletzt die aktuelle Situation in den Kliniken. Ein Pflichtjahr für junge Menschen könne laut Vogler dafür sorgen, künftig junge Menschen für Berufe im Gesundheits- und Sozialsektor zu gewinnen.
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Pflegeverbände mit unterschiedlicher Meinung
Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) sieht den Vorstoß kritisch. „Wir brauchen in der Pflege qualifiziertes Fachpersonal und in der aktuellen Personalsituation ist bereits die adäquate praktische Ausbildung in der Pflege eine Herausforderung“, sagte die Vorsitzende Christel Bienstein dem RND. „Zusätzlich junge Menschen, die einen Pflichtdienst in den Pflegeberufen leisten, anzuleiten und auch zu überwachen, dürfte angesichts der dünnen Personaldecke kaum gelingen.“
Die stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Henriette Neumeyer, sieht das anders. „Junge Menschen in einem sozialen Gesellschaftsjahr könnten entlasten“, teilte sie dem RND mit. Angesichts der „hoch qualifizierten Arbeit im Krankenhaus“ würden sie zwar keinen Ersatz für langjährig ausgebildete Fachkräfte darstellen. „Sicherlich kann aber eine positive Erfahrung in einem sozialen Dienst, Praktikum oder Ähnlichem ein Anreiz sein, in den jeweiligen Beruf zu gehen.“ Dies habe in der Vergangenheit bereits erfolgreich der Zivildienst gezeigt. „Das FSJ beziehungsweise der Bundesfreiwilligendienst können dies nur teilweise kompensieren“, so Neumeyer.
Dennoch zeige sich bereits da der positive Effekt mit Blick auf die spätere Berufswahl. „Von unseren Mitgliedern wissen wir, dass dort rund 60 Prozent der Teilnehmenden an einem Freiwilligen Sozialen Jahr in der Pflege sich am Ende für eine Ausbildung in diesem Beruf entscheiden“, sagte der Präsident des Bundesverbands privater Anbieter (bpa), Bernd Meurer, dem RND. Ob soziale Dienste freiwillig geleistet oder verpflichtend organisiert werden sollten, sei eine gesellschaftspolitische Entscheidung. Aber: „Da ein solches Engagement in vielen Bereichen – von den sozialen Aufgaben bis hin zum Umweltschutz – geleistet werden kann, ist aber sicher auch ein verpflichtendes Dienstjahr zumutbar.“
Lehrer und Grundschulen
Auch der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, zeigt sich gegenüber dem RND „aufgeschlossen“. Eine Ausweitung der Angebote des sozialen Jahres bis hin zu einem verpflichtenden sozialen Jahr könnte „den sozialen Zusammenhalt und die soziale Verantwortungsbereitschaft in Deutschland stärken“. Der Vorsitzende des Grundschulverbands, Edgar Bohn, sieht für die jungen Menschen „die Chance, in einen sozialen Bereich einen Einblick zu gewinnen, der ansonsten nicht wahrgenommen würde“, sagte er dem RND und betonte ebenfalls. „Dies wiederum könnte sich als demokratischer Gewinn für eine sich auseinanderentwickelnde Gesellschaft niederschlagen.“
Beide bezweifeln jedoch, dass ein Pflichtdienstjahr einen Beitrag gegen den Fachkräftemangel leisten könnte. „Ein soziales Jahr schafft zwar vielleicht kurzfristig mehr Kapazitäten in bestimmten Bereichen, verlängert aber gleichzeitig die Phase bis zu deren eigentlichem Berufseintritt, was dann später den Arbeitskräftemangel wieder vergrößern würde“, so Meidinger, der von jährlich „mindestens einer Million“ erforderlicher Pflichtjahrstellen ausgeht.
Auch deshalb mache ein soziales Jahr nur Sinn, wenn dieses „langfristig vorbereitet“ und „qualitativ anspruchsvoll“ ausgestaltet sei, mahnte der Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Sein Vorschlag: „Dazu gehört, dass während des sozialen Jahres anerkannte, verwertbare Qualifikationen erworben werden können und dass ein soziales Jahr auch positiv auf die Zulassung zu bestimmten Studiengängen oder Ausbildungsberufen angerechnet beziehungsweise dabei berücksichtigt werden kann.“
Einsatzmöglichkeiten in den Schulen sieht Meidinger in der Ganztagsbetreuung, bei Integrationsaufgaben, in Schulsekretariaten, im Bereich der Schulsozialarbeit und für Hausmeisteraufgaben. Bohn warnt allerdings, dass sich der Zwang eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres negativ auf die Motivation auswirken könnte. „Mit der Folge, dass die jungen Menschen sehr intensiv betreut werden müssten und damit eher zu einer Mehrbelastung der Schulen führen könnten.“
AWO: soziales Pflichtjahr wäre „respektlos“
Darauf weist auch die Co-Präsidentin der Arbeiterwohlfahrt (AWO), Kathrin Sonnenholzner, hin. „Das ist angesichts von vollen Dienstplänen und knapper Personaldecke eine zusätzliche Belastung statt der erhofften Entlastung“, sagte sie dem RND mit Blick auf das diskutierte soziale Pflichtjahr und legte nach. „Diese Idee ist nicht nur gleichermaßen respektlos gegenüber den Fachkräften, den betreuten oder gepflegten Personen und den jungen Menschen – sie geht auch einer Milchmädchenrechnung auf den Leim.“ Um das Fachkräfteproblem ernsthaft anzugehen, müssten in den sozialen Berufen Arbeitsbedingungen und Bezahlung verbessert werden.
Co-Präsident Michael Groß hält die Debatte dennoch für wichtig: „Wenn möglichst viele Menschen praktische Erfahrungen und Einblicke in soziale Tätigkeiten gewinnen, stärkt das unser Miteinander und das gegenseitige Verständnis“, begründete er gegenüber dem RND. Aber auch er unterstrich: „Die AWO steht ganz klar für engagierte Freiwilligkeit, um das zu erreichen.“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte bereits im Juni die Einführung eines sozialen Pflichtdiensts für junge Menschen in Deutschland angeregt. Im September sprach sich auch die CDU auf ihrem Parteitag in Hannover für die bundesweite Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahrs aus.
Laut einer im Oktober veröffentlichten Umfrage stößt die Idee auch beim Großteil der Bevölkerung auf Zustimmung.