Antidepressiva werden knapp

In Russland geht die Angst um: Zunahme von psychischen Erkrankungen

Eine Tablette vor dem Hintergrund einer russischen Flagge (Symbolfoto)

Eine Tablette vor dem Hintergrund einer russischen Flagge (Symbolfoto)

Moskau. Im Oktober des vergangenen Jahres konnte die Moskauer Marketingexpertin Polina einfach nicht mehr. Acht Monate nach Beginn des Krieges in der Ukraine hatten sich ihre Angstzustände und Panikattacken so sehr gesteigert, dass sie einen Psychiater aufsuchen musste. Dem blieb nichts anderes übrig, als ihr das Antidepressivum Cipralex in Kombination mit dem starken Beruhigungsmittel Xanax zu verschreiben: „Meine soziale Bubble ist ziemlich homogen“, sagte die 35-Jährige der „Moscow Times“. „Alle sind gegen den Krieg und in Panik.“ Sie kenne viele andere Leute, die in diesem Jahr begonnen hätten, Antidepressiva zu nehmen.

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+++ Alle Entwicklungen zum Krieg gegen die Ukraine im Liveblog +++

Was Polina beschreibt, wird von einer aktuellen Studie bestätigt. Im jüngsten Bericht zum sogenannten „Nationalen Angstindex“, den die Moskauer PR- und Medienagentur KROS regelmäßig erstellt, teilte diese mit, dass sich das Angstniveau in Russland 2022 gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt habe.

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Krieg stresst Russen mehr als die Pandemie

Der KROS-Index misst, wie sehr bestimmte Ängste in den traditionellen Medien und den Kommentaren in sozialen Netzwerken thematisiert und reproduziert werden. Habe die Corona-Pandemie 2021 für einen Anstieg des Index von 5,7 Punkten im Vorjahr auf 9,8 Punkte gesorgt, sei die von Putin sogenannte „Spezialoperation“ in der Ukraine im abgelaufenen Jahr zur Hauptquelle von Befürchtungen geworden, die den Indexstand auf 21,4 Punkte getrieben habe.

Selenskyj: Russland hat 99.000 Soldaten in der Ukraine verloren

Die Verantwortlichen in Moskau führten Krieg und „verschwenden Menschenleben“, sagte Selenskyj.

„Die Spezialoperation war im vergangenen Jahr die wesentliche Ursache für wachsende Sorgen unter den Russen“, heißt es in der Studie, „sowie damit zusammenhängende Themen: die anhaltende Eskalation des Konflikts mit dem Westen, der mögliche Einsatz von Atomwaffen, Sabotageaktionen und die etwaige Verlagerung von Feindseligkeiten auf das Gebiet Zentralrusslands. Eine erhebliche Rolle habe die Teilmobilisierung im September gespielt.

Teilmobilmachung führte zu Angstschub

Dass die Teilmobilmachung der Streitkräfte zu einem Angstschub in der russischen Gesellschaft geführt hat, bestätigt eine Umfrage, die die Mediengruppe RBK unter psychiatrischen Einrichtungen durchführte: „Die Zahl der Patienten, die über Schlafstörungen und Zukunftsängste klagen, nahm nach dem 21. September sprunghaft zu“, teilte das Moskauer „Psy-Pro-Center“ auf Anfrage von RBK mit.

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Nach Auffassung von Jelena Schuwarikowa, Leiterin des „Hier und Jetzt“-Centers im alten Moskauer Chitrowka-Viertel, ist die steigende Nachfrage nach psychologischer Unterstützung darauf zurückzuführen, dass das, was in der Ukraine passiert, „jedem sehr nahegekommen ist“. Hilfesuchende sprächen nicht nur über den Verlust des gewohnten Halts, sondern hätten auch Angst um geliebte Menschen.

Satte Preissteigerungen bei Antidepressiva

Dass sich die psychische Verfassung der Russen 2022 verschlechtert hat, lässt sich auch an der deutlich gesteigerten Nachfrage nach Antidepressiva ablesen. Im Oktober berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf Zahlen des E-Label-Herstellers CRPT, dass die Russen in den ersten neun Monaten des Jahres 2022 5 Milliarden Rubel (63,2 Millionen Euro) für Antidepressiva ausgegeben hätten. Das sind 70 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres.

Geht man nach der Menge der verkauften Antidepressiva, so bedeuten die von Januar bis September 2022 ausgereichten 8,4 Millionen Packungen allerdings nur einen Anstieg von 48 Prozent gegenüber dem Vorjahr. In der Differenz aus Umsatz- und Absatzplus kommt zum Ausdruck, dass sich das Angebot an Depressiva erheblich verknappt hat – mit der Folge satter Preissteigerungen.

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Medikamentenengpässe durch westliche Sanktionen

Die Engpässe werden durch die von den westlichen Sanktionen ausgelösten Lieferketten- und Logistikprobleme und dem Rückzug etlicher internationaler Pharmaunternehmen aus dem russischen Markt verursacht.

Der US-Hersteller Pfizer setzte im Oktober etwa die Lieferung seines Antidepressivums Zoloft nach Russland aus und begründete das mit „technischen Problemen“. Weil andere weitverbreitete Antidepressiva wie Anafranil (Clomipramin), Trevilor retard, Milna-neurax und weitere Präparate in den Apotheken ebenfalls schwer zu finden sind, haben sich Nebenhandelsplätze herausgebildet.

Schwunghafter Tauschhandel mit psychoaktiven Substanzen

So findet etwa auf dem Kanal „Psichofarma“ des Instantmessagingdienstes Telegram inzwischen ein schwunghafter Tauschhandel mit psychoaktiven Substanzen statt: Ein gewisser Jura Malinskij aus Moskau schreibt zum Beispiel: „Suche Trileptal 600 mg, tausche gegen Latuda 40 mg, 55 Tabletten, Abilify 10 mg, 20 Tabletten.“

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Sollte es bei den Streitkräften zu einer weiteren Mobilisierungsrunde kommen, wie viele befürchten, dürften Psychopharmaka noch knapper werden. Die Angst wird in Russland also womöglich noch mehr umgehen, als es ohnehin schon der Fall ist.

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