E-Paper
Progressivere Gesetzgebung

Ein Leben ohne Angst: Russische LGBTQ+-Menschen flüchten nach Argentinien

Dürfen hier Händchen halten und sich als Paar zeigen: Anastasia Domini (links) und ihre Frau Anna mit ihrer Tochter in Buenos Aires.

Dürfen hier Händchen halten und sich als Paar zeigen: Anastasia Domini (links) und ihre Frau Anna mit ihrer Tochter in Buenos Aires.

Buenos Aires. Anastasia Domini und ihre Frau Anna Domini schlendern an einem sonnigen Tag Hand in Hand durch Buenos Aires, die vier Kinder des Paares spielen in der Nähe. In Argentinien, wo gleichgeschlechtliche Ehen seit mehr als zehn Jahren erlaubt sind, ist das ein vertrauter Anblick. Doch die beiden Frauen erinnern sich noch an ihre Angst, als sie zum ersten Mal in der Öffentlichkeit Händchen hielten. Sie kamen aus Russland nach Argen­tinien, wo sie kurz nach ihrer Ankunft Anfang vergangenen Jahres heirateten. In Russland sind gleich­geschlechtliche Ehen seit 2020 ausdrücklich verboten.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

„Es war wirklich beängstigend“, sagt Anastasia Domini. Aber sie und ihre Frau hätten sich umgesehen, „und wirklich, wirklich niemand hat uns angeschaut“. In Russland hatten beide ihre Nachnamen geändert, um glaubhafter vorgeben zu können, dass sie Schwestern wären. Seit dem Weggang aus ihrer Heimat ist ihr Leben viel einfacher geworden. Die Frauen gehören zu einer steigenden Zahl von russischen LGBTQ+-Menschen, die wegen Diskriminierung und wegen des Krieges in der Ukraine ihr Heimatland verlassen und sich in Argentinien niederlassen.

Verschärftes Gesetz gegen „Homosexuellenpropaganda“

Denn in Russland offen als Mitglied der LGBTQ+-Gemeinde zu leben, ist in den vergangenen zehn Jahren zunehmend erschwert worden. Im Dezember 2022 unterzeichnete Präsident Wladimir Putin ein verschärftes Gesetz gegen „Homosexuellenpropaganda“. Die Invasion in die Ukraine im Februar 2022 stellt der Kreml unter anderem als Verteidigung konservativer Werte gegen ein westliches Eintreten für die Rechte von Homosexuellen und Transgender dar.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

+++ Alle Entwicklungen zum Krieg gegen die Ukraine im Liveblog +++

Beim argentinischen LGBT-Verband gingen in den vergangenen eineinhalb Jahren etwa 130 Anfragen von Menschen aus Russland ein, die nach Argentinien auswandern wollen. Das waren mehr als aus jedem anderen Land. „Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hat die Entscheidung vieler Leute beschleunigt, die sich bereits in einer gefährlichen Situation befanden“, sagt Maribe Sgariglia, die bei der Organisation die Abteilung für internationale Beziehungen leitet.

Russinnen und Russen strömen nach Argentinien

Mitglieder der LGBTQ+-Gemeinde sind nicht die einzigen Russinnen und Russen, die nach Argentinien kommen. Im Januar reisten nach offiziellen Angaben 4523 Menschen aus Russland in das südamerikanische Land ein. Das waren mehr als viermal so viele wie im Vorjahresmonat. Im vergangenen Jahr kamen etwa 22.000 Russinnen und Russen nach Argentinien, unter ihnen viele schwangere Frauen, die zur Entbindung einflogen – unter anderem, um einen Pass zu bekommen, der mehr Türen öffnet.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Für manche ist das Land nicht die erste Wahl. Der 38‑jährige trans Mann Mark Boyarsky aus Moskau etwa war mit seiner Frau und seinen zwei Kindern im Alter von fünf und acht Jahren kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs zunächst nach Nepal gezogen, um ein britisches Visum zu bekommen. Nach mehreren Monaten ohne Erfolg beschloss die Familie, im September nach Argentinien zu gehen. Hier fühle er sich nun sicher, sagt Boyarsky. In Argentinien dürfen trans Personen seit 2012 ohne medizinische Gutachten ihren Namen ändern.

Das Krisen-Radar

RND-Auslandsreporter Can Merey und sein Team analysieren die Entwicklung globaler Krisen im neuen wöchentlichen Newsletter zur Sicherheitslage – immer mittwochs.

Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.

Hochzeiten von queeren Russinnen und Russen

Boyarsky arbeitet als freier Fotograf und wird häufig bei gleichgeschlechtlichen Hochzeiten von ebenfalls eingewanderten Landsleuten gebucht. Im vergangenen Jahr heirateten in Argentinien laut LGBT-Verband mindestens 34 gleichgeschlechtliche russische Paare, in diesem Jahr waren es bereits 31.

Kürzlich fotografierte Boyarsky bei der Hochzeit der 22‑jährigen Nadeschda Skvortosowa und deren 29 Jahre alter Frau Tatiana Skvortoswa. Die Frauen gaben sich weniger als einen Monat nach ihrer Ankunft in Argen­tinien das Jawort. Beide hatten in Russland ebenfalls ihre Nachnamen geändert, um sich als Schwestern ausgeben zu können. „Es ist ein sehr wichtiger Moment für uns“, sagte Nadeschda Skvortosowa auf dem Standesamtes in Buenos Aires. „Wir warten schon sehr lange darauf, offiziell eine Familie zu werden.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Flucht vor der Mobilisierung

Viele russische Migrantinnen und Migranten wissen bis zu ihrem Eintreffen in Argentinien wenig über das Land. „Tango, Che Guevara, und dass es eine spanische Kolonie war“, scherzt Nikolai Schuschpan, ein 26‑jähriger Schwuler. Er war aus Angst, in den Krieg eingezogen zu werden, im Oktober ins Zentrum der argentinischen Hauptstadt gezogen. Dort teilt er sich jetzt eine Wohnung mit seinem Landsmann Dimitri Jarin, den er über eine Datingplattform kennengelernt hat. Er habe schon lange vorgehabt, in ein toleranteres Land umzuziehen, sagt der 21‑jährige Jarin, aber der Krieg habe diese Entscheidung beschleunigt.

Wegen der Diskriminierung, die ihnen in ihrer Heimat droht, beantragen viele Russinnen und Russen in Argentinien einen Flüchtlingsstatus. Die Entscheidungen der Behörden darüber können bis zu drei Jahre dauern.

Ein Leben in ständiger Angst

Die Dominis sind nach ihrem ersten Jahr in Buenos Aires einfach nur erleichtert. In ihrer Heimatstadt Petrosawodsk im Nordwesten von Russland hätten sie kaum jemandem von ihrer Beziehung und ihren beiden Zwillingspaaren im Alter von drei und sechs Jahren erzählt, sagt die 34‑jährige Anastasia Domini. Sie und ihre 44 Jahre alte Frau Anna hätten in ständiger Angst gelebt, dass die Behörden ihnen die Kinder wegnehmen und sie in ein Waisenhaus stecken könnten.

RND/AP

Mehr aus Politik

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken