Politikwissenschaftlerin: Aserbaidschan will Kontrolle über Berg-Karabach ausbauen
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Menschen an einem Checkpoint am Latschin-Korridor. Die freie Durchfahrt ist seit 12. Dezember von Aserbaidschan blockiert.
© Quelle: IMAGO/ITAR-TASS
Berlin. Seit über einem Monat blockieren aserbaidschanische Kräfte, die sich als Umweltaktivsten ausgeben, den Latschin-Korridor, die einzige Zufahrt von Armenien in die Region Berg-Karabach. Neben Stimmen aus der Politik warnt jetzt auch die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt/Main vor einer „humanitärer Katastrophe für 120.000 Menschen“.
„Seit dem 12. Dezember blockieren Aserbaidschaner die einzige Straße, die Berg-Karabach (Arzach) mit Armenien verbindet. Lebensmittel und Medikamente können nicht passieren. Die IGFM fordert die aserbaidschanischen Behörden auf, die Blockade aufzuheben und appelliert an die Bundesregierung, sich deutlich gegenüber Aserbaidschan zu positionieren“, heißt es auf der Website der Nichtregierungsorganisation (NGO).
Alter Streit brach 1991 offen aus
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion brach der Streit zwischen dem christlichen Armenien und dem muslimischen Aserbaidschan um Berg-Karabach offen aus. Am 2. September 1991 erklärte sich die Republik Berg-Karabach unabhängig und benannte sich 2017 in Republik Arzach um. Der De-facto-Staat, der von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt ist, wird von Eriwan unterstützt.
„Langsam, Schritt für Schritt, fehlt es uns an allem: Lebensmittel, Medikamente, Benzin“
Wie es in einer Mitteilung der Republik Arzach heißt, durfte bislang „lediglich eine sehr geringe Anzahl von medizinischen Notfällen, vermittelt vom Internationalen Roten Kreuz, das Gebiet Berg-Karabach in Richtung Eriwan verlassen“. In der Hauptstadt Stepanakert gebe es leere Regale in den Supermärkten, einfache Lebensmittel würden rationiert oder seien gar nicht mehr erhältlich.
Ruben Vardanyan, Staatsminister von Arzach, hatte dem RND einen Tag vor Heiligabend gesagt, von der Blockade seien auch 30.000 Kinder betroffen. „Langsam, Schritt für Schritt, fehlt es uns an allem: Lebensmittel, Medikamente, Benzin. Wir sind komplett blockiert“, berichtete Vardanyan.
Während des 44‑Tage-Krieges 2020 eroberte Aserbaidschan rund ein Drittel der Region Berg-Karabach, 6900 Menschen starben, und erst unter der Vermittlung Russlands kam es zum Waffenstillstand. Russland entsandte 2000 Soldaten, die als Friedenstruppe auch den Latschin-Korridor sichern sollten.
Moskau hält sich zurück
Doch Moskau übt sich jetzt in Zurückhaltung. Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan hatte zuletzt die russischen Friedenstruppen wiederholt dafür kritisiert, dass sie auf dem Latschin-Korridor keine freie Passage gewährleisten.
In der vergangenen Woche ging Eriwan dann direkt auf Distanz zum Kreml und sagte auf seinem Gebiet für 2023 geplante gemeinsame Militärübungen der von Russland angeführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) komplett ab. Die Übungen des Militärbündnisses OVKS, dem unter anderem auch Belarus und Kasachstan angehören, seien „in der aktuellen Lage nicht angemessen“, sagte Paschinjan vor der Presse in Eriwan. Politische Beobachter und Beobachterinnen sehen in diesem Schritt ein weiteres Anzeichen für zunehmende Spannungen zwischen Eriwan und Moskau.
Verhältnis auf dem Tiefpunkt
„Das Verhältnis zwischen Armenien und Russland ist derzeit auf einem Tiefpunkt angekommen“, sagt Nadja Douglas, Politikwissenschaftlerin beim Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die Kritik an den russischen Friedenstruppen habe sich in den letzten Wochen auch in der armenischen Gesellschaft potenziert.
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Die Politikwissenschaftlerin Nadja Douglas beobachtet das Geschehen in Berg-Karabach.
© Quelle: Anette Riedl
Bei Protesten vor der russischen Militärbasis in der armenischen Stadt Gyumri habe es Forderungen nach dem Austritt Armeniens aus der OVKS und nach einem Ende der „russischen Besatzung“ gegeben. Nach Douglas‘ Einschätzung steuert der Konflikt um Berg-Karabach auf eine neue Eskalationsstufe zu, bei der Aserbaidschan das Ruder in der Hand hält. „Die Armenier haben militärisch kaum etwas entgegenzusetzen und können sich auf ihre bisherig Schutzmacht Russland nicht mehr verlassen.
Russen fürchten Probleme mit der Türkei
„Die Russen sind mit ihren Kräften in der Ukraine gebunden und fürchten außerdem, dass sie Probleme mit der Türkei bekommen, wenn sie gegen deren engen Verbündeten Aserbaidschan vorgehen“, sagt die Politikwissenschaftlerin. Russland sei international isoliert, könne nur noch taktisch agieren und betrachte die Türkei immer mehr als eine Art Rettungsanker.
Mit Blick auf die Latschin-Blockade schätzt Douglas, dass Aserbaidschan das Ziel verfolgt, einen festen Checkpoint einzurichten und damit faktisch den ex-territorialen Status des Latchin-Korridors außer Kraft zu setzen, um auf diese Weise die Kontrolle über die Region schrittweise auszubauen.
„Wenn man aserbaidschanische Quellen liest, dann gewinnt man den Eindruck, dass Baku darauf hinarbeitet“, sagt Douglas. Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev äußerte jüngst in einem Fernsehinterview, dass der Weg für alle, die nicht aserbaidschanische Bürger werden wollten, offen sei. Sie könnten von sich aus gehen und niemand würde sie daran hindern. Baku gibt die Zahl der Karabach-Armenier mit lediglich 30.000 bis 40.000 an.
Die IGFM warnt angesichts der humanitären Notlage vor „ethnischer Säuberung des Gebiets durch Aserbaidschan“. Die Blockade werde gezielt dafür eingesetzt, die armenische Bevölkerung „durch Mangel und Not zu zermürben und sie so zu vertreiben“, heißt in einer Mitteilung.
Was Armenien nach Jahren der Auseinandersetzungen helfen könnte, wäre ein Friedensvertrag mit Aserbaidschan – möglichst unter Vermittlung des Westens, meint Politikwissenschaftlerin Douglas. „Wenn es einen Vertrag unter Vermittlung Russlands gäbe, dann würde dieser höchstwahrscheinlich festlegen, dass Russland bis auf Weiteres militärisch auf armenischem Territorium präsent bleibt.“
Schirdewan: Die EU hat starke Hebel
Der Vorsitzende der Linksfraktion im EU-Parlament, Martin Schirdewan, sagte dem RND, die EU habe als Handelspartner und über Aserbaidschans Bündnispartner Türkei starke Hebel, um diplomatisch Einfluss auszuüben. „Es darf nicht darauf hinauslaufen, dass sich Diktatoren alles erlauben können, weil sie uns Gas liefern“, erklärte Schirdewann und fügte hinzu: „Die Blockade des Latschin-Korridors durch aserbaidschanische Kräfte ist zu verurteilen.“ Aserbaidschan provoziere eine humanitäre Katastrophe. „Es sei höchste Zeit, dass Deutschland und die EU sich aktiv für einen dauerhaften Frieden zwischen Aserbaidschan und Armenien einsetzen“, sagte Schirdewan, der auch Parteichef der Linken ist.
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„Die Blockade des Latschin-Korridors durch das Schmierentheater Aserbaidschans gefährdet inzwischen Menschenleben“, sagte der grüne Außenpolitiker Jürgen Trittin dem RND. „Die Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln, aber auch mit Strom ist weitgehend unterbrochen. Das ist der Versuch von Präsident Ilham Alijew, eine Eskalation herbeizuführen.“ Es sei nur schwer zu übersehen, dass die russischen Truppen vor Ort nicht in der Lage seien die Situation zu kontrollieren oder sogar kein Interesse daran hätten, so Trittin.
„Die Blockade muss dringend beendet werden“, forderte Trittin. Es sei deshalb wichtig, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Initiative für ein Gespräch zwischen den Präsidenten beider Länder ergriffen habe. „Es braucht jetzt aber Vermittlungsinitiativen von europäischer Seite mit mehr Nachdruck“, betonte Trittin und fügte hinzu: „Aserbaidschans Rolle als Energielieferant Europas darf hier nicht zu Leisetreterei seitens der EU führen.“