Gravierende Probleme in der Pflege: „Fakt ist, eine schnelle Lösung gibt es nicht“
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Die Fehlzeiten von Pflegekräften steigen weiter an, und der Pflegenotstand spitzt sich weiter zu.
© Quelle: dpa
Die Zahlen sind alarmierend: Alten- und Krankenpflegekräfte waren 2022 deutlich öfter krank gemeldet als im Vorjahr. In der Branche herrscht große Not. Dabei geht Pflege alle etwas an. Jeder Mensch kann pflegebedürftig werden, und viele haben gerade davor große Angst. Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats und Geschäftsführerin des Berliner Bildungscampus für Pflegeberufe, ist selbst an der Ausbildung junger Fachkräfte beteiligt. Zum Tag der Pflegenden am 12. Mai gibt sie Einblick in die Branche und erklärt, warum es trotz aller Bemühungen keine schnelle Lösung gibt.
Frau Vogler, wenn Sie für einen Tag besondere Kräfte hätten und drei Maßnahmen sofort umsetzen könnten, um die Situation in der Pflege zu verbessern, welche wären das?
Handlungsautonomie, die Institutionalisierung der Pflege und die Verbesserung des Bildungssystems.
Was genau meinen Sie damit?
Wir sind der Ansicht, dass die Pflege eine Stimme braucht, damit sich langfristig etwas verbessern kann. Dafür braucht es Institutionen und entsprechende institutionelle Strukturen. Außerdem brauchen wir ein besseres Bildungssystem. Die Rolle der Pflege und die Bedeutung von Pflegeberufen muss viel mehr thematisiert werden. Ebenso die verschiedenen Perspektiven, die dieses Berufsfeld bietet. Die Profession muss entsprechend ihrer großen Kompetenzen selbst entscheiden dürfen, was für die Pflege gut ist.
Wäre eine Verbesserung in der Pflegebranche dadurch direkt spürbar?
Nein, selbst wenn wir diese Maßnahmen morgen umsetzen würden, wäre die Wirkung erst in rund zehn Jahren spürbar. Fakt ist, eine schnelle Lösung gibt es nicht. Dafür wurden die Probleme zu lange ignoriert und nicht konsequent genug behandelt.
Die Zahl der Fehltage pro Kopf ist bei Altenpflegekräften nach Angaben der TK von 25,8 auf 32,1 Tage gestiegen. Krankenpflegekräfte waren durchschnittlich 27,5 Tage krankgemeldet, im Jahr 2021 waren es 22,3 Tage – wie ist dieser sprunghafte Anstieg zu erklären?
Viele Beschäftigte stehen unter dauerhafter Anspannung, das macht natürlich etwas mit den Menschen. Außerdem wissen viele, dass sich die Situation in naher Zukunft nicht verbessern wird. Dieser Hoffnungsstreif und die Perspektive auf Besserung fehlen den Pflegekräften.
Die Erhebung der TK
Die TK ist mit über elf Millionen Versicherten die größte gesetzliche Krankenkasse des Landes. Bei der aktuellen Auswertung der Anzahl der Fehltage von Pflegekräften wurden die Daten von mehr als fünf Millionen versicherten Erwerbspersonen aus verschiedenen Branchen betrachtet. Alten- und Krankenpflegekräfte waren 2022 deutlich öfter krank gemeldet als im Vorjahr. Ohnehin liegen Pflegekräfte bei der Anzahl der Fehltage rund 57 Prozent (10,5 Tage) über dem Durchschnitt aller bei der TK versicherten Beschäftigten.
Welche Rolle spielt dabei die Pandemie?
Man darf nicht vergessen, dass wir 2022 noch voll in der Corona-Zeit gesteckt haben. Gleichzeitig fielen nach und nach die Regeln bezüglich des Maskentragens in der Gesellschaft. In den Einrichtungen nicht. Diese Art der Entsolidarisierung hatte natürlich eine Wirkung, die nicht vor den Toren der Kliniken und Pflegeheime haltgemacht hat. Die Auswirkungen der Pandemie mussten vor allem die ohnehin schon an der Belastungsgrenze arbeitenden Pflegekräfte auffangen.
Internationaler Tag der Pflegenden: So steht es um die Pflege in Deutschland
Der 12. Mai ist den Menschen gewidmet, die weltweit in Pflegeberufen arbeiten. Er geht auf Florence Nightingale zurück, Pionierin der modernen Krankenpflege.
© Quelle: Grit Gadow
Die häufigsten Diagnosen bei den Krankmeldungen sind psychische Erkrankungen und Muskel-Skelett-Beschwerden. Warum?
Die Diagnose psychischer Erkrankungen ist aus unserer Sicht bei vielen Pflegekräften auf die dauerhafte, hohe Belastung zurückzuführen. Außerdem ist die Pflege ein körperlich anstrengender Beruf. Gibt es dann noch zu wenig Pflegefachpersonen, wie dies nach wie vor der Fall ist, steigt die körperliche Belastung für diese natürlich noch mehr an.
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Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats und Geschäftsführerin des Berliner Bildungscampus für Pflegeberufe, fordert mehr Handlungsautonomie für Pflegekräfte.
© Quelle: Reiner Freese
Mit welchen Maßnahmen kann man den Beruf attraktiver gestalten?
Die Gehälter müssen weiter entsprechend der Qualifikation und Verantwortung steigen. Bei guter Entlohnung sind Belastung und Verantwortung zumindest finanziell befriedet. Ansonsten – Mitsprache in den Betrieben, Handlungsautonomie für die berufliche Tätigkeit und regionale Anreize wie Jobtickets, Betreuungsangebot für Kinder, familienfreundliche Unternehmen, Wohnungsangebote. Alles, was mit guten Arbeitsbedingungen zu tun hat. Es müssen mehr Menschen diesen Beruf ergreifen, die Arbeitszeit aus der Teilzeit heraus erhöhen und wieder zurückkommen, nur so kann sich in der Zukunft etwas verbessern.
Es gibt viele Umfragen, die zeigen, dass ein Großteil der Deutschen Angst davor hat, im Laufe seines Lebens pflegebedürftig zu werden. Der Notstand in diesem Bereich geht also jeden etwas an. Wieso tut sich trotzdem so wenig?
Mich wundert es, dass die Brisanz des Themas so ignoriert und halbherzig angegangen wird. Es besorgt mich, dass die bisherigen politischen Maßnahmen so wenig Wirkung zeigen. Es gab schon viele Gipfeltreffen zu politischen Themen. Genau das brauchen wir auch für die Pflege – wann gibt es endlich einen Pflegegipfel mit den Ministerpräsident*innen und dem Kanzler? Das scheint noch kein Thema zu sein. Die passive Haltung der Gesellschaft ist vielleicht auch einer Art Hilflosigkeit geschuldet. Transparenz bei der Verteilung der Staatsausgaben sowie eine Neuverteilung dieser, die die Pflege stärker in den Fokus nimmt, könnten helfen.
Was passiert, wenn der Bedarf an Pflege nicht mehr gedeckt werden kann?
In vielen Regionen ist das bereits der Fall. Negative Konsequenzen hat das vor allem für Frauen. Sie übernehmen immer noch einen Großteil der unbezahlten Care-Arbeit in Deutschland. Im Job verdienen sie oft noch weniger Gehalt als Männer. Geht es dann darum, wer beruflich kürzertreten muss, um sich um pflegebedürftige Angehörige zu kümmern, fällt die Wahl in vielen Fällen auf die Frau. So verstärken sich soziale Ungleichheiten gegenseitig.