Die Türkei und das jähe Ende der Hoffnung
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Ein Mann geht an einem Plakat des türkischen CHP-Parteivorsitzenden und Präsidentschaftskandidaten des Oppositionsbündnisses, Kilicdaroglu, vorbei.
© Quelle: Emrah Gurel/AP/dpa
Liebe Leserin, lieber Leser,
ein türkischer Erdogan-Kritiker schrieb mir nach der Wahl: „Offensichtlich verdienen wir keine bessere Regierung.“ Aus diesen Worten spricht der ganze Frust der Oppositionsanhängerinnen und -anhänger, von denen ein anderer mir sagt: „Viele von uns sind total deprimiert.“ Nie erschien eine Abwahl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wahrscheinlicher als am vergangenen Sonntag. Sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu lag in den meisten Umfragen deutlich vorne, bei der Wahl dann aber klar hinten. Nun kommt es zwar zur Stichwahl zwischen Erdogan und Kilicdaroglu, eindeutiger Favorit ist aber der Amtsinhaber. Für die schwer angeschlagene Demokratie, die Kilicdaroglu wiederbeleben will, sind das keine guten Nachrichten.
Zehn Tage lang bin ich für das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) durch die Türkei gereist, ich war in Diyarbakir, in Gaziantep und in Dörfern im Erdbebengebiet. In Istanbul habe ich Nachbarn in Erdogans altem Wohnhaus besucht, in Ankara in der Wahlnacht gemeinsam mit Tausenden seiner Anhänger vor der Parteizentrale seiner islamisch-konservativen AKP ausgeharrt. Nie habe ich bei liberalen Türkinnen und Türken mehr Hoffnung gespürt, dass die seit mehr als 20 Jahren währende Erdogan-Ära sich nun dem Ende zuneigen könnte. Alles wurde diesem einen Ziel untergeordnet, das zugleich der kleinste gemeinsame Nenner der alles andere als geeinten Opposition gewesen ist. Wie es dann weitergehe, werde man sehen, hieß es immer wieder – Hauptsache, Erdogan sei endlich weg.
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Ließ sich schon auf dem Balkon in Ankara feiern: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan muss noch in die Stichwahl, hat aber gute Chancen, Präsident zu bleiben.
© Quelle: IMAGO/Kyodo News
Viele liberale Türkinnen und Türken haben mir auch gesagt, dass sie nicht mehr in dem Land leben wollten, sollte Erdogan doch an der Macht bleiben. Schon jetzt leidet die Türkei unter der Abwanderung besonders von jungen qualifizierten Fachkräften, die dort keine Zukunft mehr für sich sehen. Dieser Trend dürfte sich bei Erdogans Wiederwahl beschleunigen. Eine schlechte Nachricht wäre eine weitere Amtszeit auch für die Tausenden politischen Gefangenen wie der Menschenrechtsaktivist Osman Kavala, die ansonsten auf eine Freilassung hoffen könnten.
Erdogans Wiederwahl hätte Folgen weit über die Türkei hinaus. Die britische Zeitschrift „The Economist“, die zu seiner Abwahl aufgerufen hat, hat die Wahl in der Türkei die wichtigste in diesem Jahr genannt. Unter Erdogan nähert sich der Nato-Partner Türkei seit Jahren Russland an. Auch seit dem russischen Überfall auf die Ukraine pflegt Erdogan enge Beziehungen zu Kremlchef Wladimir Putin. Die Nato-Mitgliedschaft Schwedens blockiert der türkische Präsident seit vielen Monaten, was auch dem Wahlkampf geschuldet und deshalb so oder so bald hinfällig sein dürfte.
Erdogans großzügige Wahlgeschenke werden die Wirtschaftskrise weiter anheizen
Ein schwacher Trost für die Opposition ist, dass sie im Fall von Kilicdaroglus Niederlage die in weiten Teilen hausgemachte Wirtschaftskrise nicht von Erdogan erbt. Großzügige Wahlgeschenke wie Gratisgas für Privathaushalte dürften dem Präsidenten Stimmen gebracht haben, heizen die Krise aber weiter an. Auch die Mittelschicht ächzt längst unter den Belastungen. Die Preise explodieren, Löhne und Gehälter halten schon lange nicht mehr mit. Eine Krankenschwester beispielsweise verdient heute netto zwischen 14.000 und 20.000 Lira (650 und 930 Euro), vor einem halben Jahr waren es zwischen 9800 und 14.000 Lira – das Gehalt hat also um gut 40 Prozent zugelegt. Der Preis für ein Kilo Lammfleisch mit Knochen hat sich in derselben Zeit auf rund 280 Lira in etwa vervierfacht.
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Erdogan-Anhänger feiern in Ankara: Für die Opposition war das Ergebnis ein Schlag in die Magengrube.
© Quelle: IMAGO/Achille Abboud
Temel Cerman leidet unter der Wirtschaftskrise, Erdogan wählt er trotzdem. Der 47-Jährige restauriert Antiquitäten in Istanbul, seine Werkstatt liegt im Untergeschoss von Erdogans altem Wohnhaus im Arbeiterviertel Kasimpasa. Während ich auf Nachbarn warte, die den heutigen Präsidenten noch von früher kennen, lädt Cerman mich zu sich ein. „Ich arbeite die ganze Zeit, kann mir aber nichts mehr leisten“, beklagt er. Cerman ist reflektierter als viele andere AKP-Anhängerinnen und -Anhänger, die „den Westen“ für die Wirtschaftskrise verantwortlich machen. Cerman sieht die Verantwortung Erdogans, sagt aber auch: „Krisen kommen und gehen. Aber das größte Problem wäre, wenn wir unser Land verlieren würden.“
Das ist das Untergangsszenario Erdogans, der die Opposition in die Nähe von Terrorunterstützern gerückt hat: Wer sie wählt, so die Logik, gefährdet die Zukunft des Vaterlandes. Weil es in der Türkei kaum noch freie Medien gibt, wird die nationalistisch-islamistische Propaganda der AKP-Regierung kaum noch Faktenchecks unterworfen. Auch für die Pressefreiheit wäre eine Wiederwahl Erdogans keine gute Nachricht.
Bleibt es bei einer Wiederwahl also alles beim Alten in der Türkei? Vermutlich wird es eher schlimmer werden, jedenfalls aus Sicht liberaler Türkinnen, Türken und des Westens. Sinan Ciddi von der Stiftung zur Verteidigung der Demokratie (FDD) schrieb schon vor der Wahl in der Außenpolitik-Fachzeitschrift „National Interest“: „Eine dritte Amtszeit Erdogans wird wahrscheinlich das beschneiden, was von der schwächelnden Demokratie in der Türkei noch übrig ist.“
Bis zur nächsten Ausgabe
Ihr Can Merey
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Krisen-Radar
RND-Auslandsreporter Can Merey und sein Team analysieren die Entwicklung globaler Krisen im neuen wöchentlichen Newsletter zur Sicherheitslage – immer mittwochs.
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Was gerade passiert
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Wie fit ist der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko?
© Quelle: Gavriil Grigorov/Pool Sputnik Kr
- Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko ist offensichtlich gesundheitlich stärker beeinträchtigt. Der Oppositionspolitiker Pawel Latuschka zeigt sich überzeugt, das der Diktator einen Virusinfekt hat – der diesen offenbar noch stärker beeinträchtigt.
- Nach seiner Vierländertour ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zurück in sein Heimatland gereist. Dort muss er sich neben Russlands Angriffskrieg inneren Problemen stellen. Ein neuer Korruptionsskandal erschüttert das Land.
- Ein Gericht in Moskau hat einen Kolumbianer wegen angeblicher „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ zu fünf Jahren und zwei Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Die Haft soll der Angeklagte in einer Anstalt des allgemeinen Strafvollzugs absitzen, berichtete die Nachrichtenagentur Interfax aus dem Gerichtssaal. Es ist der erste bekannte Fall, in dem ein Ausländer wegen Diskreditierung der Armee zu einer Haftstrafe in Russland verurteilt wurde.
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Die Story des Tages
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Erdogans erneuter Erfolg in Deutschland – und die Frage nach dem Warum
65 Prozent der in Deutschland abgegebenen Stimmen bei der türkischen Präsidentschaftswahl entfielen auf Recep Tayyip Erdogan. Trotz seines autoritären Regierungsstils und des wirtschaftlichen Verfalls in der Türkei – welche Gründe das hat.
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Klare Ansage
„Das hat schlicht was mit der Reichweite der Maschine zu tun, mit der Komplexität der Ausbildung.“
Marie-Agnes Strack-Zimmermann,
Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, lehnt die Lieferung von Kampfjets an die Ukraine ab.
Vorschau
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Der syrische Präsident Baschar al-Assad.
© Quelle: IMAGO/ZUMA Wire
Am Freitag findet in Dschidda der Gipfel der Arabischen Liga statt. Saudi-Arabiens König Salman ist Gastgeber des Treffens der 22 Mitglieder zählenden regionalen Organisation. Zum Treffen wird erstmals seit 2011 wieder der syrische Präsident Baschar al-Assad erwartet. Die Mitgliedschaft Syriens in der Organisation war zwölf Jahre lang ausgesetzt. Gründe dafür waren unter anderem die gewaltsame Niederschlagung von friedlichen Massenprotesten, die brutale Unterdrückung der Protestbewegung und die schweren Menschenrechtsverletzungen.
Nach Information der Deutschen Presse-Agentur ist aber auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj geladen – er soll als Ehrengast zum Gipfel kommen. Ob er tatsächlich anreist, ist noch nicht bestätigt.
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