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„Maßnahmen reichen nicht“

Italiens Flüchtlingskrise: Giorgia Meloni ist in der harten Realität angekommen

Giorgia Meloni (rechts) und Ursula von der Leyen bei einer Pressekonferenz auf Lampedusa. Meloni verschärfte Maßnahmen zur Eindämmung der Flüchtlingsströme.

Giorgia Meloni (rechts) und Ursula von der Leyen bei einer Pressekonferenz auf Lampedusa. Meloni verschärfte Maßnahmen zur Eindämmung der Flüchtlingsströme.

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Rom. Ein großes Déjà-vu: Das war am Sonntagnachmittag die verbreitete Stimmung bei den Bewohnern Lampedusas, nachdem der Regierungsflieger von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und von EU‑Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen wieder im blauen Himmel über dem Mittelmeer entschwunden war.

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Alles, was der hohe Besuch an Vorschlägen und Versprechungen im Gepäck hatte, haben die Insulaner in ähnlicher oder identischer Form schon einmal gehört: Im Verlauf der stetig wiederkehrenden Notlagen auf der Insel haben in den letzten Jahren schon zwei EU‑Kommissions­präsidenten, fünf italienische Regierungs­chefs, vier europäische Ratspräsidenten und, nach einem Schiffbruch mit 368 Toten, sogar Papst Franziskus in Lampedusa ihre Aufwartung gemacht.

Es sollte nach diesen Besuchen immer alles anders und besser werden. „Geändert hat sich hier aber trotz allen schönen Worten nie etwas“, sagt der Fischer Vito Fiorino, der bei der Tragödie von 2013 43 Flüchtende gerettet hatte.

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Jetzt will die italienische Regierung zusammen mit der EU einen neuen Anlauf nehmen. Das Kabinett in Rom hat gestern ein neues Dekret vorgelegt, dessen Inhalt Meloni schon am vergangenen Freitag in einer Video­botschaft angekündigt hatte: Die Regierung will „in abgelegenen und bevölkerungsarmen Gegenden“ mindestens ein Dutzend neue Abschiebelager bauen und die maximale Aufenthaltsdauer in diesen Zentren von bisher zwölf auf 18 Monate erhöhen.

„Es lohnt sich nicht, wenn ihr euch den Schleppern anvertraut“

Das Ziel der Maßnahmen ist klar: Italien will Migranten, deren Asylgesuch abgelehnt wird, schneller und in höherer Zahl abschieben können. In ihrer Videobotschaft hatte sich Meloni auch direkt an die Migranten gewendet: „Es lohnt sich nicht, wenn ihr euch den Schleppern anvertraut. Denn wenn ihr illegal nach Italien kommt, werdet ihr festgesetzt und dann abgeschoben“, erklärte Meloni.

Giorgia Meloni, die im Wahlkampf eine drastische Reduktion der irregulären Immigration versprochen hatte, steht angesichts der Verdoppelung der Flüchtlingszahlen in diesem Jahr und der Ankunft von rund 10.000 Migranten auf Lampedusa allein in der vergangenen Woche unter enormem Druck – und ist inzwischen auf dem harten Boden der Realität gelandet.

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Sie musste einsehen (falls sie es nicht schon vorher wusste), dass die von ihr im Wahlkampf geforderte Seeblockade gegen Flüchtlingsboote völlig unrealistisch ist: Die Maßnahme würde gegen internationales Recht verstoßen, sie wäre unmenschlich, sie hätte unzählige Tote zur Folge, und sie müsste von den Regierungen der Herkunftsstaaten, insbesondere von Tunesien, mitgetragen werden.

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Außenminister warnt vor Illusionen

Melonis Problem besteht nun darin, dass sich auch der größte Teil der gestern angekündigten Massnahmen als stumpfe Waffen erweisen könnten: Italien kann noch so viele Abschiebelager bauen und die Verweildauer darin noch so erhöhen – in welcher Zahl und wie schnell die abgelehnten Asylbewerber tatsächlich abgeschoben werden können, werden auch in Zukunft nicht die drei regierenden Rechtsparteien in Rom, sondern die Herkunftsländer entscheiden.

Italien, das nur mit vier Herkunftsstaaten Rücknahmeabkommen hat (darunter Tunesien), schafft es im Jahr gerade einmal, 5000 bis 6000 Personen zu repatriieren – bei knapp 130.000 Migranten und Migrantinnen, die in diesem Jahr bereits angekommen sind.

Außenminister Antonio Tajani, in der Flüchtlingspolitik einer der Gemäßigteren in Melonis Kabinett, warnte gestern ausdrücklich vor Illusionen. „Angesichts von Krieg, Bevölkerungswachstum, Klimawandel, Hunger und Terrorismus in den Herkunftsländern nützen uns Notmaßnahmen wenig: Die Menschen dort flüchten, um nicht zu sterben.“

Tajani fordert wirtschaftliche Zusammenarbeit

Allein in Afrika würden im Jahr 2050 2,5 Milliarden Menschen leben – „das ist die Dimension, von der wir reden, nicht die 10.000 Migranten auf Lampedusa“, betonte Tajani im „Corriere della Sera“. Man müsse das Problem in seiner ganzen Komplexität angehen: „Selbst wenn es uns gelingen würde, Tunesien und Libyen ‚dichtzumachen‘ – dann würden die Migranten am Tag darauf von Marokko und Algerien kommen.“

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Es gibt laut Tajani nur eine Möglichkeit, die epochalen Migrationsströme in den Griff zu bekommen: Die Diplomatie, unter Einbezug der UN, sowie die wirtschaftliche Kooperation mit den Herkunftsstaaten. Neben den nun beschlossenen, vorwiegend repressiven und erfahrungsgemäß wenig wirksamen Maßnahmen verfolgt auch Giorgia Meloni diesen Ansatz: Italien will die Maghreb-Staaten und andere afrikanische Länder dabei unterstützen, mit Solar- und Windkraftwerken in der Sahara zu Großproduzenten grüner Energie zu werden, die Europa helfen werden, das russische Gas zu ersetzen.

Den hehren Absichtserklärungen müssten nun aber Taten folgen – damit die „Lampedusiani“, wie sich die Bewohner der kleinen Felseninsel selber nennen, in ein paar Jahren nicht, wie am Sonntag, erneut feststellen müssen: „Bei uns hat sich trotz allen schönen Worten nie etwas geändert.“


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