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Kirchentagspräsident kritisiert Jugend

Ist die junge Generation faul und egoistisch? Warum de Maizières Kritik viel zu kurz greift

"Die können sich keinen Cappuccino mit Hafermilch machen, wann sie Lust haben": Thomas de Maizière, Präsident des 38. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Nürnberg.

"Die können sich keinen Cappuccino mit Hafermilch machen, wann sie Lust haben": Thomas de Maizière, Präsident des 38. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Nürnberg.

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Der Evangelische Kirchentag ist ein Ort der Solidarität. Hier geht es auf mehr als 2000 Veranstaltungen um Gerechtigkeit, Zukunft und Gemeinschaft: singend, betend, debattierend, feiernd und schweigend.

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Möglich gemacht wird das Festival der Nächstenliebe von 5000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern ab 16 Jahren – meist jung, meist hoch engagiert – die als Wegweiser, Problemlöser, Papphockerzusammenfalter und Mitanpacker fast rund um die Uhr schuften und zum Dank kaum mehr erhalten als täglich einen Teller Schupfnudeln mit Sauerkraut und die Gelegenheit, in einer Schulturnhalle auf der Isomatte zu pennen, während nebenan einer die halbe Nacht lang „Kumbaja“ klampft, der es nicht tun sollte. Kurz: Es ist der völlig falsche Ort, um auf die Jugend zu schimpfen.

Thomas de Maizière hat es trotzdem getan. Und zwar in seiner Eigenschaft als aktueller Kirchentagspräsident. Er klang dabei ganz wie jener CDU-Bundesminister, der er unter Bundeskanzlerin Angela Merkel insgesamt 13 Jahre lang war. Die „Anspruchshaltung“ der Generation der 20- bis 30-Jährigen, schalt der knapp 70-jährige Ex-Innenminister, gehe ihm „gegen den Strich“, sagte er der „Zeit“. „Mich ärgert, dass sie zu viel an sich denken und zu wenig an die Gesellschaft.“

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Im Deutschlandfunk legte er gleich noch einmal nach: Die Menschen müssten länger, mehr und auch „besser“ arbeiten. Ansonsten werde Deutschland „nach unten durchgereicht als Land“. Viertagewoche? Teufelszeug. Work-Life-Balance? Gedöns.

5000 junge freiwillige Helfer: Der Kirchentag würde ohne das Engagement der jüngeren Generation gar nicht stattfinden.

5000 junge freiwillige Helfer: Der Kirchentag würde ohne das Engagement der jüngeren Generation gar nicht stattfinden.

Es funktioniere nicht, wenn Menschen mit Mitte 20 „drei, vier Tage pro Woche arbeiteten, um gegen 22 Uhr bei Lieferando einen Champagner zu bestellen“, sagte de Maizière. Ihn nerve die „Spaltung“ im Arbeitsleben: „Die einen, die bequem im Homeoffice hocken. Und dann die Polizisten, die rausmüssen. Die Krankenschwestern, die Nachtbereitschaft haben. Die können sich keinen Cappuccino mit Hafermilch machen, wann sie Lust haben.“

Man fragt sich, was in den Mann gefahren ist. Möglich, dass de Maizière bei der verheerenden Bewertung der aktuellen Jugend von der Berliner Hipsterbubble geprägt ist. Er klang exakt, wie Ältere seit 10.000 Jahren klingen, wenn ihnen die nachrückende Generation mit Ideen und Konzepten auf den Senkel geht, die mit ihrer Welt nicht mehr viel zu tun haben. Dann wird stets mit Inbrunst das Lied von der laschen Jugend gesungen. In Markus Lanz’ ZDF-Talk wetterte er auch gleich noch gegen Arbeiten im Homeoffice und die Idee der Viertagewoche.

Wettert gegen Jüngere, die „gegen 22 Uhr bei Lieferando einen Champagner bestellen“: Thomas de Maizière, Präsident des 38. Deutschen Evangelischen Kirchentags.

Wettert gegen Jüngere, die „gegen 22 Uhr bei Lieferando einen Champagner bestellen“: Thomas de Maizière, Präsident des 38. Deutschen Evangelischen Kirchentags.

Die Frage, Herr de Maizière, ist nicht, welche Generation es schwerer hatte und fleißiger war. Ob die Boomer sehenden Auges den Planeten aussaugten und den Scherbenhaufen nun den Jüngeren zuschieben, die sich mit 200 Mitbewerbern um eine Wohnung balgen und von einem Praktikum ins nächste vagabundieren, bevor sie mit frühestens 70 Jahren in Rente gehen. Oder ob – umgekehrt – die Jüngeren missachten, welche Privilegien, die sie heute genießen, dem Engagement der Älteren zu verdanken sind. Die Frage am letzten Wochenende des Kirchentages ist, ob es christlich ist, als Präsident des Kirchentages die Generationen gegeneinander auszuspielen.

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Sinn ist kein Luxus für semifleißige Heulsusen

De Maizière pöbele „gegen junge Leute, die eine Zukunft und eine Arbeitswelt einfordern, die nicht in Burn-out, Einsamkeit und Krisen münden“, urteilte die Klimaaktivistin Luisa Neubauer, das sei „unerträglich“. Und sie hat recht. Denn seine Kritik greift viel zu kurz. Die (allermeisten) Jungen wollen gar nicht weniger arbeiten. Sie wollen anders arbeiten. Sie wollen sich nicht sinnlos bucklig schuften, um mit 40 in einer Burn-out-Klinik zu landen, wo Jahr für Jahr Hunderttausende erstmals erleben, wie es ist, den Kopf zu heben.

Sie wollen Sinn in ihrer Arbeit finden. Sinn ist kein Luxus für semifleißige Heulsusen, sondern der beste Motivator in der Arbeitswelt überhaupt. Glück ist keine Todsünde, Herr Kirchentagspräsident, sondern eine tiefe menschliche Sehnsucht.

Uralte Vorurteile – immer wieder neu erhoben

Es ist so einfach, die Jüngeren pauschal als verwöhnt, arbeitsscheu und dauerbeleidigt abzukanzeln. Welche Generation in der Menschheitsgeschichte war mit steigendem Alter nicht zunehmend der Überzeugung, sie habe deutlich mehr richtig gemacht als die Nachrückenden?

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Bei Twitter gibt es einen wunderbaren Account, der in alten Zeitungsarchiven nach Vorurteilen stöbert, die sich bis in die Gegenwart ziehen. Der Thread „A Brief History of Kids Today Are Too Soft“ präsentiert Originalzeitungsausschnitte aus den Jahren 1921 bis 2008. In jedem einzelnen hieß es sinngemäß: Die Jugend von heute? Verweichlicht, respektlos und faul. (Auch wenn das gern zum Beweis herangezogene angebliche Sokrates-Zitat „Die Jugend liebt heute den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt mehr vor älteren Leuten und diskutiert, wo sie arbeiten sollte“, nicht von Sokrates stammt.)

Klischees helfen nicht weiter

Gewiss spricht aus de Maizière auch der alte, protestantische Arbeitsethos. Er bezieht sich – Kirchentag! – ausdrücklich auf die Bibel. „Am siebten Tage sollst du ruhen, heißt es in der Bibel“, sagte er. „Das bedeutet ein Verhältnis von sechs zu eins. Und nicht, dass die Freizeit überwiegt.“ Die Bibel ist ohne Zweifel ein wertvoller Ratgeber der Menschlichkeit, dessen Inhalt tief im Bewusstsein des Abendlandes verwurzelt ist. Doch mit einem Arbeitszeitmodell von vor 2000 Jahren lässt sich die Zukunft kaum gestalten. Stellen wir uns einen Moment vor, Luisa Neubauer hätte die heutige Rentnergeneration pauschal als egoistische, hedonistische, SUV-fahrende, Prosecco schlürfende, faule und an den Problemen der Gegenwart desinteressierte Alt-Ökos verunglimpft. Es würde Tage dauern, bis die Republik wieder zu Ruhe käme.

„Klimakrise spaltet“: Junge Klimaaktivisten beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Nürnberg.

„Klimakrise spaltet“: Junge Klimaaktivisten beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Nürnberg.

Klischees helfen nicht weiter, wenn es um die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft geht. Es wird stattdessen wichtig sein, Beruf und Familie clever zu vereinbaren, die Arbeitslast und den Lohn fair zu verteilen, offenzubleiben für neue Ideen, geistig beweglich zu sein und zu akzeptieren, dass jede Generation vor ihren eigenen, ganz neuen Herausforderungen steht, die man nicht veralbern oder kleinreden sollte, bloß weil einem (was natürlich völlig zulässig ist) das Gendern auf die Nerven geht oder der befreundete KfZ-Meister gerade wieder erzählt hat, dass sein Lehrling nach dem ersten Kaffee hingeschmissen hat und jetzt „was mit Medien“ macht.

Es ist enttäuschend, dass Thomas de Maizière als amtierender Kirchentagspräsident einen derart engen Blick auf die junge Generation aufweist. So heißt es doch: „Niemand verachte dich wegen deiner Jugend, sondern sei den Gläubigen ein Vorbild im Wort, im Wandel, in der Liebe, im Geist, im Glauben, in der Keuschheit.“ Steht übrigens auch in der Bibel.

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