Tiktok oder nicht?

Wie sich KZ‑Gedenkstätten in digitaler Holocaustbildung üben

KZ‑Häftlinge im Block 56 im Kleinen Lager des KZ Buchenwald am 16. April 1945. Stehend: Simon Toncman, untere Pritsche: Miklos Grüner (Erster von links), Max Hamburger (Vierter von links), zweite Reihe: Hermann Leefsma (Vierter von links), Elie Wiesel (Siebter von links), dritte Reihe: Paul Argiewicz (Dritter von links), Naftalie Furst (Fünfter von links), vierte Reihe: Mel Mermelstein (Vierter von links).

KZ‑Häftlinge im Block 56 im Kleinen Lager des KZ Buchenwald am 16. April 1945. Stehend: Simon Toncman, untere Pritsche: Miklos Grüner (Erster von links), Max Hamburger (Vierter von links), zweite Reihe: Hermann Leefsma (Vierter von links), Elie Wiesel (Siebter von links), dritte Reihe: Paul Argiewicz (Dritter von links), Naftalie Furst (Fünfter von links), vierte Reihe: Mel Mermelstein (Vierter von links).

Berlin. Glauben Sie, dass der Holocaust geschehen ist? Auf diese Frage antworteten in der jüngeren niederländischen Erwachsenen­generation nur 83 Prozent mit Ja, bei allen Erwachsenen waren es der frisch vorgestellten Studie der Claims Conference zufolge 90 Prozent. 9 Prozent der Jüngeren gaben an, dies nicht zu glauben, 8 Prozent waren „nicht sicher“.

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6 Prozent der jüngeren Erwachsenen gaben sogar an, den Holocaust für einen Mythos zu halten. 17 Prozent waren der Auffassung, dass die Zahl der ermordeten Jüdinnen und Juden „stark übertrieben“ sei. 7 Prozent der befragten jüngeren Nieder­länderinnen und Niederländer glauben zudem, dass das berühmte Tagebuch von Anne Frank eine Fälschung sei.

Frühere Befragungen in der Generation Z der heute 16‑ bis 25‑Jährigen in Deutschland ergaben ähnliche Ergebnisse. Die Körber-Stiftung fand zum Beispiel vor ein paar Jahren heraus, dass vier von zehn Schülerinnen und Schülern nicht wissen, was der Holocaust ist. Dabei ist das Interesse riesengroß, wie eine gerade erst einmal ein Jahr alte Studie des Arolsen-Archivs herausfand. Zentrale Botschaft: Die jungen Leute interessieren sich deutlich mehr für die NS‑Zeit als die Generation ihrer Eltern (75 Prozent gegenüber 66 Prozent) und verbinden die Auseinander­setzung mit akuten gesellschaftlichen Problemen wie Rassismus und Diskriminierung.

Aussterbende Zeitzeugen

Die Monstrosität der NS‑Verbrechen, so die Autoren des beauftragten Rheingold-Instituts, löst dabei eine Mischung aus Angst und Faszination aus – die Konfrontation hat psychologisch den Charakter einer Mutprobe, bei der die Generation Z ohne verordnete Moral auch den Motiven der Täter und Täterinnen nachspüren wolle.

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Dieser Ausschnitt aus einem unmittelbar nach Kriegsende entstandenen sowjetischen Dokumentarfilm zeigt die elternlose Anna Strishkova 1945 in einem Kiewer Krankenhaus nach ihrer Befreiung und vor ihrer Adoption. Ihre in den linken Arm tätowierte Auschwitznummer ist undeutlich zu sehen und wird vom Sprecher falsch wiedergegeben.

Als Kind ins KZ Auschwitz verschleppt: So fand Anna aus Kiew 2022 ihre Familie wieder

Anna Strishkowa hat Jahrzehnte vergeblich versucht, ihre Herkunft herauszufinden. Fehler in einer sowjetischen Dokumentation und Erinnerungslücken führten die Kiewerin auf die falsche Fährte. Nun halfen ihr ein deutscher Filmemacher, das Stuttgarter Landeskriminalamt und ein ukrainischer Holocaustforscher. Mit Erfolg: Die alte Dame stammt nicht aus der Ukraine, und mithilfe von DNA‑Tests fanden sie sogar Familienangehörige.

Doch wie geht Holocaustbildung heute? Auf der einen Seite sind die Jugendlichen, die praktisch alles mit dem Smartphone erledigen und in sozialen Netzwerken unterwegs sind, auf der anderen Seite Gedenkstätten und Museen mit Schaukästen, körnigen Videos und niedrigen Budgets. Zwar gibt es im Moment noch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die berichten können von den Gräueltaten der Nazis und dem millionenfachen Mord an Jüdinnen und Juden in ganz Europa im Zweiten Weltkrieg. Doch auch sie werden immer weniger.

Einige von ihnen haben sich ein Herz gefasst und sind dorthin gegangen, wo die jungen Leute sind – zur Social-Media-Plattform Tiktok des chinesischen Betreibers Bytedance etwa. Die 99‑jährige Holocaustüberlebende Lily Ebert und ihr Urenkel Dov Forman aus Großbritannien sind mit ihren Erklärvideos regelrechte Tiktok-Stars mit zwei MiIlionen Followern und fast 35 Millionen Likes. Auch Gidon Lev (88) aus Tel Aviv ist mit 414.000 Followern und fast acht Millionen Likes sehr beliebt.

Erinnerung an die Schoah
 
Holocaust-Gedenktag

Den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust (International Holocaust Remembrance Day) oder der Schoah gibt es seit dem Jahr 2005. Die Vereinten Nationen haben ihn damals zum Gedenken an den Holocaust und den 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau eingeführt. In Israel gibt es bereits seit 1951 einen Holocaustgedenktag. Er heißt dort Jom haScho’a und wird jährlich am 27. Nisan des jüdischen Kalenders – das ist zwischen Mitte März und Mitte April. Am Holocaustgedenktag wird der schätzungsweise 5,6 bis 6,3 Millionen europäischer Juden und Jüdinnen gedacht, die dem nationalsozialistischen Völkermord während des Zweiten Weltkriegs zum Opfer fielen – das waren rund zwei Drittel aller damals lebenden europäischen Juden und Jüdinnen.

Furcht vor Hasskommentaren

Eine der aktivsten und digital kreativsten Gedenkstätten in Deutschland, die KZ‑Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg, zählt hingegen 27.200 Follower und 465.000 Likes. Woran liegt das?

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Gidon Lev und seine Lebenspartnerin Julie Gray haben zehn Tage vor dem Internationalen Holocaustgedenktag am 27. Januar täglich Tiktoks veröffentlicht, in denen sie Gedenkstätten in Europa vorstellen. „Einige Gedenkstätten lehnen es ab, soziale Medien zu nutzen“, erzählt Gray. „Da spielen Sicherheits­gründe eine Rolle. Leider ist die Anzahl antisemitischer Hass­kommentare oft sehr hoch. Also gehen einige Gedenkstätten lieber nicht auf soziale Plattformen wie Tiktok.“

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Die Plattform hat das Problem schon länger erkannt und bietet interessierten Gedenkstätten und Erinnerungs­einrichtungen bereits im zweiten Jahr in einer „Shoah Education and Commemoration“-Initiative Seminare zur digitalen Gedenk- und Bildungsarbeit und dem Erreichen neuer Zielgruppen an. Wissenschaftlich begleitet wird dies von einer quantitativen und qualitativen Studie der Hebräischen Universität Jerusalem. 15 Gedenkstätten haben bislang teilgenommen.

In Bildung investieren

Tiktok-General­manager Tobias Henning, zuständig für Deutschland, Österreich, die Schweiz und Osteuropa, sagt, es genüge nicht, gegen Holocaustleugnerinnen und ‑leugner in den Netzwerken vorzugehen. „Wir müssen in Bildung gegen den Antisemitismus investieren.“ Henning räumt ein, dass es auch auf Tiktok trotz weltweit Tausender Moderatoren Hass gebe. „Es passieren Fehler, es ist ein kontinuierlicher Prozess. Doch wir wollen helfen, die Erinnerungs­arbeit in die digitale Welt zu übertragen.“ Umgang mit Hass­kommentaren inklusive.

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Der größte Vorbehalt, dem sich Plattformen wie Tiktok gegen­über­sehen, ist ihr überwiegender Unterhaltungs­charakter. Tänzchen, Späßchen, Blödeleien. Der Ruf ist nicht so schnell wegzudiskutieren. Auf der anderen Seite halten sich momentan auf der Plattform über eine Milliarde Menschen weltweit auf – viele, wenn nicht gar die meisten sind zwischen 16 und 25 Jahre alt. Wer sie erreichen will – womit auch immer – ist hier so lange richtig, bis das nächste große Ding kommt.

Die Museen und Gedenkstätten haben jahrzehntelange Erfahrungen bei der Holocaustvermittlung. Ihnen fällt es jedoch immer schwerer, die junge Generation zu erreichen. Marlene Wöckinger von der österreichischen KZ‑Gedenkstätte Mauthausen berichtet, dass es sehr abweichende Positionen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor dem Engagement auf Tiktok gegeben hätte. „Es ist bis heute eine Herausforderung, Biografien in einem einminütigen Video unterzubringen“, so Wöckinger. „Man ist jedoch auch überrascht, was alles möglich ist.“

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Ähnliche Erfahrungen machte Tlalit Kitzoni von der Gedenkstätte des Yad-Mordechai-Museums im Süden Israels. Sie musste ihre Direktorin überzeugen, als erste israelische Einrichtung Holocaustbildung auf Tiktok anzubieten. „Ja“, sagt sie, „es ist eine riesige Herausforderung, Geschichte zu vereinfachen. Wir sollten unsere Arbeit auf Tiktok als eine Art Teaser, einen Appetit­macher, verstehen. Bildung soll auch Freude bereiten.“

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Jugendliche Berater

Die Programmdirektorin des Londoner Holocaust Educational Trusts, Clementine Smith, rät dazu, die Arbeit auf Tiktok mit einem klaren Fokus zu verrichten. „Bei Tiktok geht es nicht um formelle Bildung und der Holocaust in seiner Komplexität lässt sich auch nicht in einer einzigen Unterrichts­stunde darstellen.“ Die Plattform müsse als Teil einer großen Bildungs­landschaft, zu der Schulen oder Gedenk­stätten gehören, begriffen werden.

„Hier gibt es andere Dialoge und andere Formen der Zusammen­arbeit“, so Smith. „Unsere Verantwortung bleibt es, die Fakten zu beachten und zu verbreiten.“ Nicht alles ließe sich vereinfachen, räumt sie ein. Ihrer Einrichtung geht es darum, Tiktok als Einfallstor zu nutzen, Interesse zu erzeugen und Dialoge zu ermöglichen. „Wir werden besser, weil wir inzwischen viele gute jugendliche Berater haben“, erzählt Smith.

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Laut Tobias Ebbrecht-Hartmann, der die Studie der Hebräischen Universität konzipiert hat, sind im Rahmen der Tiktok-Initiative inzwischen 335 Videos entstanden, für die bislang 11,5 Millionen Ansichten gezählt wurden. Erste Ergebnisse: „Zur Holocaustbildung werden nicht immer traurige Streicherklänge im Hintergrund benötigt, besonders beliebt sind Challenges, um mehr über die Schoah zu erfahren, und über­durch­schnittlich viele über 35‑Jährige schauen sich die Videos der Gedenkstätten an.“

Israelischer Botschafter erst skeptisch

Marlene Wöckinger von der KZ‑Gedenkstätte Mauthausen, sagt, dass sich das Konzept ihrer Einrichtung – miteinander zu reden – wunderbar auf Tiktok verlängern lässt. „Mit vielen jungen Leuten, die einmal hier waren, bleiben wir über Tiktok länger in Verbindung.“ Wöckinger ist aber auch Pragmatikerin. „Wir haben jährlich 200.000 Besucher. Wenn ich gut bin, erreiche ich diese Zahl mit einem einzigen Video.“

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Der israelische Botschafter in Deutschland gibt zu, dass er bei Tiktok bislang eher skeptisch an Tänze in Videos gedacht habe. „Die Fackel der Erinnerung muss in die Zukunft getragen werden“, fordert Ron Prosor. „Und vielleicht kann man dazu auch manchmal tanzen.“

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