„Euthanasie“ und Erbgesundheitsgesetz

Die vergessenen NS-Opfer: Zwangssterilisierte kämpfen noch immer um Anerkennung

Porträts von „Euthanasie“-Opfern in der Gedenkstätte Bernburg in Sachsen-Anhalt.

Porträts von „Euthanasie“-Opfern in der Gedenkstätte Bernburg in Sachsen-Anhalt.

1934 tritt sie zum letzten Mal auf den grau gepflasterten Gehweg vor dem Haus Nummer 14 in der Berliner Sprengelstraße. Anna Demloff, 30 Jahre alt, verheiratet, Mutter zweier Söhne, wird in die Wittenauer Heilstätten gebracht, die älteste psychiatrische Klinik der damaligen Reichshauptstadt. Die Diagnose: „manisch-depressives Irrsein“.

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72 Jahre später hebelt der Künstler Gunter Demnig einige der grauen Pflastersteine aus dem Boden. An ihrer Stelle verlegt er eine jener kleinen Gedenktafeln aus Messing, die er „Stolpersteine“ nennt. Die Inschrift: „Hier wohnte Anna Demloff, geb. Großmann. Jahrgang 1904. Landesanstalt Schloss Hartheim/Linz. Ermordet 1940.“

Anna Demloff ist einer von 300.000 Menschen, die im Nationalsozialismus als „lebensunwert“ erklärt und im Zuge der sogenannten „Euthanasie“ ermordet wurden. Wie 400.000 Menschen wurde sie zuvor wegen ihrer psychischen Erkrankung zwangssterilisiert. Grundlage dafür bot das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das Hitlers Reichsregierung bereits 1933 erließ – nur gesunde Menschen sollten nach Meinung der Nazis noch Kinder zeugen dürfen.

 1024. Bundesratssitzung Aktuell, 16.09.2022, Berlin, Karin Prien Bildungsministerin von Schleswig-Holstein und Stellvertretende Vorsitzende, Christlich Demokratische Union Deutschlands im Portrait im Fernsehinterview bei der 1024.Sitzung im Bundesrat in Berlin Berlin Berlin Deutschland *** 1024 Bundesratssitzung Aktuell, 16 09 2022, Berlin, Karin Prien Minister of Education of Schleswig Holstein and Deputy Chairwoman, Christian Democratic Union of Germany in portrait in television interview at the 1024 meeting in the Bundesrat in Berlin Berlin Germany

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Opfer kämpften um Entschädigung

Anna Demloffs Sohn Jürgen ist es, der sich 2002 mit dem Bund der ‚Euthanasie‘-Geschädigten und Zwangssterilisierten (BEZ) in Kontakt setzt, um die Ermordung seiner Mutter aufzuarbeiten. Die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft, Margret Hamm, hat Demloffs Geschichte recherchiert und niedergeschrieben. Die 77-Jährige setzt sich seit mehr als 20 Jahren für die Rechte der von „Euthanasie“ und Zwangssterilisation Betroffenen ein.

Es greife zu kurz, nur von psychisch kranken oder behinderten Menschen zu sprechen, erklärt sie am Telefon: „Die Opfer kamen aus verschiedensten Hintergründen. Das waren jüdische Menschen, Zeugen Jehovas, die sogenannten ‚Asozialen‘, Sinti, Roma, alle, die in irgendeiner Form vom Nationalsozialismus verfolgt wurden.“ Fürsorgeempfänger, Langzeitarbeitslose und Alkoholiker konnten Opfer der Zwangssterilisation werden. Teilweise sollten auch Kommunisten oder SPD-Angehörige bestraft werden, indem ihre Kinder zwangssterilisiert wurden, so Hamm.

Viele der Zwangssterilisierten mussten während der NS-Zeit in Anstalten arbeiten, ohne dass dafür Sozialversicherungsbeiträge abgeführt wurden. Die Folge sind Einbußen bei der Rente – auch Jahrzehnte später. „Sie waren nicht auf der Gewinnerseite des Lebens. Und waren arm. Und deshalb war am Anfang für sie wichtig, dass sie eine Entschädigung bekamen“, sagt Margret Hamm. Es sei ein langer, harter Kampf gegen die Bürokratie gewesen, betont sie.

Die BEZ-Geschäftsführerin hat eine Zeittafel zusammengetragen, anhand derer sich die quälend langsame Entwicklung der Gesetzeslage zu möglichen Entschädigungen ablesen lässt. Mittlerweile können Zwangssterilisierte einmalig 2556,46 Euro erhalten. Dasselbe gilt für die Kinder von „Euthanasie“-Opfern, solange sie zur Ermordung ihres Elternteils nicht älter als 27 Jahre waren – hier werde nicht die Ermordung eines Menschen, sondern ein Unterhaltsschaden entschädigt, so der BEZ. Alle „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten können außerdem monatlich 600 Euro erhalten. Noch ein bis zwei Anträge auf Entschädigung gehen jährlich über Margret Hamms Schreibtisch. Mittlerweile seien es oft die Enkel, die ihre Großeltern dazu ermutigen.

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Zwangssterilisierte und „Euthanasie“-Geschädigte nicht als NS-Verfolgte anerkannt

Doch damit ist die Aufarbeitung nicht getan, erklärt Hamm. Bis heute würden Zwangssterilisierte und „Euthanasie“-Geschädigte von der Politik nicht als NS-Verfolgte anerkannt. „Man spricht ihnen ab, dass sie im Nationalsozialismus verfolgt worden sind“, beklagt Hamm. Die zeitgeschichtliche Forschung aber sei in der Sache eindeutig. „Sie sind verfolgt worden, aus ideologischen Gründen, man hat sie als lebensunwert betrachtet und ausgegrenzt.“

Wenn Margret Hamm darüber spricht, wird sie emotional. „Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor eine Opferhierarchie. Es gibt Opfergruppen, die eine starke Lobby haben, die Gehör gefunden haben – aber diese Opfer nicht“, findet sie. Für viele Betroffene sei die Thematik mit viel Scham verbunden. „Es gibt die Ängste, dass es irgendwo noch manifest ist, dass man noch irgendwie erkennen kann, dass sie damals in diese Kategorie gesteckt und lebensunwürdig genannt wurden.“

Von ursprünglich mehr als 1000 Mitgliedern des BEZ – allesamt sind selbst Opfer der Zwangssterilisation oder haben Angehörige durch „Euthanasie“-Morde verloren – lebten im Februar 2022 noch 36. „Es geht in dem Alter, in dem die Menschen sind, nicht mehr um Geld. Es geht darum, anerkannt zu werden. Dass das Stigma, die Scham, zu dieser Gruppe zu gehören, getilgt wird“, sagt Margret Hamm. Sie glaubt nicht daran, dass dieser Wunsch in näherer Zeit erfüllt wird, sondern vielmehr, dass die Politik warte, bis auch die 36 letzten Betroffenen verstorben sind.

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Wo Anna Demloff wirklich starb, ist nicht klar

Anna Demloff aus dem Berliner Wedding verbringt ab 1934 vier Jahre in den Wittenauer Heilstätten. Außerhalb der Anstalt geht das Leben ihrer Familie weiter. Die Haushaltshilfe, die ihr Ehemann sich nimmt, wird schließlich schwanger. Rudolf Demloff lässt sich scheiden, um die werdende Mutter zur Frau zu nehmen. Er ist damit nicht mehr Anna Demloffs Vormund. Und Anna ist ohne Schutz.

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Noch am Tag der endenden Vormundschaft wird sie in eine andere Anstalt verlegt. „Hier verliert sich ihre Spur“, heißt es im letzten Absatz der Biografie, die Margret Hamm verfasst hat. „Die zwei Jahre bis zu ihrer Ermordung 1940 sind bis jetzt im Dunkeln. Die fingierte Sterbeurkunde aus der Tötungsanstalt Hartheim trägt das Datum 3. Juli 1940.“ Wo Anna Demloff wirklich starb, ist nicht klar. „Oft wurden Angehörige getäuscht, um Zeit zu schinden“, erklärt Hamm. Hartheim war eine Einrichtung nahe dem österreichischen Linz, in der kranke Menschen mit Kohlenmonoxid umgebracht wurden. Später verwendeten die Nazis auch Medikamente zur Tötung – oder ließen ihre Opfer gezielt verhungern.

17 Jahre nach seiner Verlegung glänzt der Stolperstein mit Anna Demloffs Namen golden zwischen den grauen Pflastersteinen. Jemand muss ihn geputzt haben. Darüber hängt ein A4-Blatt, etwas unter Augenhöhe mit zwei Streifen Panzerband an der Haustür der Sprengelstraße 14 befestigt, das Anna Demloffs Biografie trägt – oder den Bruchteil, den Margret Hamm 2002 niedergeschrieben hat. Die 77-Jährige weiß nicht, wer ihn dort aufgehängt hat, auch Anrufe bei der Berliner Stolpersteininitiative bringen keine Antwort. Es muss sich um eine Privatperson handeln, vielleicht ein Angehöriger, vielleicht eine Nachbarin, die das Andenken an Anna Demloff hochhält – 83 Jahre nach ihrem gewaltsamen Tod.

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