Gedanken über „jeden Penny“: Großbritannien leidet unter Inflation und Energiekrise
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/N4CXBUWCBRBDDBD3HCA7LPFV6E.jpeg)
Menschen stehen in der Gemüseabteilung eines Supermarktes. Angesichts der explodierenden Inflation warnen Ökonomen vor verheerenden Folgen für die britische Wirtschaft – und die Menschen.
© Quelle: Aaron Chown/PA Wire/dpa
London. Caroline traf sich früher jedes Wochenende mit ihrer Familie, ihren Freunden. Sie ging regelmäßig mit ihrem Mann etwas trinken oder essen. „Wir waren keine Partygänger, die jeden Abend unterwegs waren, aber das Leben war ganz anders“, sagt die 54‑jährige Zahnarzthelferin aus Hertfordshire, einer Grafschaft in England, nördlich von London gelegen. Jetzt jedoch mache sie sich über „jeden einzelnen Penny“ Gedanken.
Sie ist kein Einzelfall. Die Sorgen der Britin teilen viele auf der Insel. Denn das, was die Menschen in den kommenden Monaten laut Prognosen erwartet, klingt bedrohlich. Die schottische Hilfsorganisation Citizens Advice Scotland warnte diese Woche davor, dass viele Menschen im Königreich diesen Winter vor der Wahl stünden zu frieren oder zu hungern.
Experten gegen davon aus, dass die Energiepreisobergrenze im kommenden Januar bei rund 5000 Pfund (knapp 6000 Euro) liegen könnte. Weil in Großbritannien viel mit Gas gekocht und geheizt wird und dieses auch bei der Stromerzeugung eine Rolle spielt, wirken sich die Energiepreise massiv auf die Inflationsrate aus. Diese lag im Vereinigten Königreich zuletzt bei über 10 Prozent. Ökonomen prognostizieren, dass sie im kommenden Jahr auf bis zu 18 Prozent im Vergleich zum Vorjahr steigen könnte.
Mir drastischen Folgen: Rund 50 Prozent der Haushalte könnten in Armut verfallen, warnen Hilfsorganisationen. Denn obwohl bedürftige Britinnen und Briten zwar eine Form von Sozialhilfe erhalten, reicht diese laut Fachleuten längst nicht mehr aus, um die gestiegenen Preise für Energie und Lebensmittel zu finanzieren. Schon jetzt sind viele Menschen und Familien von Tafeln abhängig, um zu überleben. Diese wiederum fürchten mittlerweile, dass ihnen bald die Lebensmittelspenden ausgehen, weil die Krise fast alle treffen wird.
Um dem Problem zu begegnen, hatte die konservative Regierung unter Boris Johnson im Frühjahr beschlossen, dass jeder Haushalt mit etwa 480 Euro entlastet werden soll. Angesichts des Ausmaßes der Krise sind diese Zahlungen laut Experten jedoch nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. „Es sind deutlich mehr Hilfen nötig“, betonte Alan Wager, Ökonom und Politologe bei der Denkfabrik UK in a Changing Europe gegenüber de, RND.
Davon ist man aktuell jedoch weit entfernt. Noch-Premierminister Boris Johnson betonte zwar, dass weitere Schritte nötig seien, um die Bevölkerung zu unterstützen. Wie diese aussähen, überließe er jedoch dem neuen Premier und fuhr zum Ärger vieler in der Sommerpause gleich zweimal in den Urlaub. Ernannt wird der neue Parteichef in etwas mehr als einer Woche, am 5. September. Um seine Nachfolge kämpfen aktuell zwei Kandidaten: Außenministerin Liz Truss, die als klare Favoritin gilt, und der frühere Finanzminister Rishi Sunak.
Sunak und Truss im Rennen um Johnson-Nachfolge
Ex‑Finanzminister Rishi Sunak oder Außenministerin Liz Truss. Einer von beiden wird demnächst in der Downing Street Number 10 einziehen.
© Quelle: Reuters
Einzige Maßnahme: Steuersenkungen
Trotz wiederholter Forderungen machte Truss bislang jedoch keine konkreten Aussagen zu weiteren Maßnahmen, die dem Ausmaß der Krise gerecht würden. Stattdessen verspricht sie den überwiegend weißen, männlichen und vor allem wohlhabenden konservativen Parteimitgliedern, die seit Anfang des Monats online und per Brief darüber entscheiden können, wer den Parteivorsitz übernimmt, eines: Steuersenkungen.
Die britische Denkfabrik Resolution Foundation betonte jedoch, dass der Steuersenkungsplan von Truss „völlig das Ziel“ verfehle, weil davon primär die vermögenden Menschen im Land profitieren und überdies die Inflation weiter steigen würde. Wager vergleicht den Plan der 46‑Jährigen in diesem Zusammenhang mit den Diskussionen über die Auswirkungen des Brexit. „Damals hat man auch nicht auf Experten gehört, die vor negativen Folgen gewarnt haben.“
Stattdessen hat nun die Labour-Partei einen konkreten Vorschlag gemacht. Sie fordert, die Energiepreise beim derzeitigen Niveau einzufrieren. Bezahlen sollen das Konzerne. Oppositionsführer Keir Starmer möchte dafür die Übergewinnsteuer anheben: „Wir haben die Wahl. Wir können Öl- und Gaskonzerne riesige Gewinne erwirtschaften lassen, während Millionen Haushalte ihre Rechnungen nicht zahlen können, oder wir tun etwas dagegen.“
Innerhalb der Bevölkerung stößt dieser Vorschlag auf viel Zustimmung, wie die steigenden Umfragewerte für die Partei bestätigen. „Das ganze Land spricht mit einer Stimme. Aber wir werden immer noch ignoriert“, titelte gestern die britische Boulevardzeitung „The Daily Mirror“. Und forderte: „Frieren Sie unsere Rechnungen jetzt ein.“ Es bleibt abzuwarten, ob der zukünftige Premierminister oder die zukünftige Premierministerin diesen Forderungen nachkommt.
Laden Sie sich jetzt hier kostenfrei unsere neue RND-App für Android und iOS herunter