Feier am Brandenburger Tor: Steinmeier warnt vor neuen Mauern
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„Neue Mauern einreißen“: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht bei der Feier anlässlich der Festivalwoche „30 Jahre Friedliche Revolution – Mauerfall“ am Brandenburger Tor.
© Quelle: Annette Riedl/Bernd von Jutrczenka/dpa/Montage RND
Berlin. „Nichts ist unendlich“: Als zum Auftakt Ost-Rocker Dirk Michaelis seine melancholische Wendehymne „Als ich fortging“ singt, werden auf Leinwänden und riesigen Leuchtbällen Fernsehbilder aus der Mauerfallnacht von 1989 gezeigt. Es ist der emotionale Beginn des Gedenk- und Feierabends zum 30. Jahrestag der Berliner Grenzöffnung, zu der Zehntausende dorthin gekommen sind, wo damals noch der Todesstreifen die Stadt trennte.
Immer wieder hatte es geregnet an diesem Samstag in Berlin, aber seit 17 Uhr, als der Regen aufhörte, ist der Andrang auf die Festmeile am Pariser Platz riesig. Vom Potsdamer Platz kommend war schnell kein Durchkommen mehr, die Einlasskontrollen an ihrer Kapazitätsgrenze. Nach einer Lautsprecherdurchsage der Polizei, von der Seite der Siegessäule seien noch alle Eingänge frei, setzt entlang der Sperrzone am Tiergarten eine Völkerwanderung zum Großen Stern ein. Auch hier sind alle Eingänge bald überlastet, doch nach und nach füllt sich der Pariser Platz - und wird zur Partymeile.
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Tausende Zuschauer stehen bei der Feier „30 Jahre Friedliche Revolution“ am Brandenburger Tor.
© Quelle: Bernd von Jutrczenka/dpa
Auf der Bühne unterm Brandenburger Tor, die von mehreren riesigen leuchtenden Kugeln gesäumt ist, treten an diesem Abend auch die Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Daniel Barenboim auf, ebenso DJ Westbam, die Zöllner, Zugezogen Maskulin und Anna Loos, die auch gemeinsam mit ZDF-Moderator Jochen Breyer durch den Abend führt.
Als Gastgeber hält die erste Rede dann Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). Er erinnert an die überraschenden Szenen der Nacht vor 30 Jahren und an „Momente des Glücks, die niemand, der sie erlebt hat, je vergessen wird“. Er dankt den Ostdeutschen, die die Friedliche Revolution initiierten, den Alliierten und „allen Bürgern in Ost und West, die sich seit 30 Jahren für das Zusammenwachsen engagieren“.
Zwar seien im Prozess der Wiedervereinigung auch Fehler gemacht worden, aber eben auch vieles erreicht, so Müller: „Wir können stolz sein auf das, was wir zusammen geschafft haben.“ Gerade auch im Gedenken an den anderen 9. November, die Pogromnacht von 1938, ermahne dieser Tag auch dazu, Freiheit und Demokratie gegen die aktuellen Angriffe zu verteidigen, sagt er und erhält dafür viel Applaus vor dem Brandenburger Tor.
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Michael Müller (SPD), Regierender Bürgermeister von Berlin, spricht bei der Feier anlässlich „30 Jahre Mauerfall“.
© Quelle: Bernd von Jutrczenka/dpa
Danach spricht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Es ist eine eher nachdenkliche, aber kraftvolle Rede. Steinmeier erinnert daran, wie es zum Mauerfall kam: „Diese Mauer, sie fiel ja nicht einfach. Die friedlichen Revolutionäre haben sie eingerissen“, sagt er. „Sie, die Mutigen in der DDR, haben Geschichte geschrieben.“
Steinmeier: „Welch ein Glück für ganz Europa!“
Zum 30. Jahrestag werden Bundespräsident, Bundesregierung und Berliner Gastgeber vor allem den Beitrag der osteuropäischen Nachbarn herausstellen. Die Menschen in Osteuropa haben die Mauer vor deren Fall ins Wanken gebracht, sagt Steinmeier in seiner Rede dazu. „Ihr Mut hat die Teilung Europas beendet.“
Und weiter: „Die Mauer fiel nicht einfach. Nein, sie war brüchig geworden, weil Michail Gorbatschow in Moskau eine andere Politik eingeleitet hat, eine Politik der Entspannung.“ Und zuletzt dankte Steinmeier auch ausführlich den USA: „Die Mauer fiel nicht einfach. Auch ein starker Arm aus dem Westen war am Werk.“ Der Bundespräsident erinnert an Ronald Reagan – und erhält viel Applaus für seinen Wunsch, dass die USA auch in Zukunft ein guter Freund Europas sein mögen.
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Kämpferische Rede in festlicher Kulisse: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor dem Brandenburger Tor, übertragen auf die Videoleinwände vor Ort.
© Quelle: Bernd von Jutrczenka/dpa
Allerspätestens der antisemitische Anschlag in Halle (Saale) habe jedoch auch gezeigt, dass die deutsche Verantwortung auch für die Verbrechen des Nationalismus nicht vergeht – gerade eben am 9. November. „Die Jahre vergehen, die Vergangenheit rückt in die Ferne – ja“, so Steinmeier. „Aber das ‚Nie wieder‘, der Kampf gegen Rassenhass und Antisemitismus, diese Verantwortung vergeht nicht!“
„Zum 9. November gehört Freude und Trauer“
Der 9. November sei ein Tag der widersprüchlichen Erinnerungen, betont das Staatsoberhaupt: „Ambivalenzen auszuhalten, Licht und Schatten, Freude und Trauer im Herzen zu tragen, das gehört dazu, wenn man Deutscher ist.“
Steinmeier erinnert an die Freude über den Fall der Berliner Mauer – und warnte vor neuen Mauern, die sich in Deutschland ausbreiteten: „Die große Mauer, dieses unmenschliche Bauwerk, das so viele Opfer gefordert hat, steht nicht mehr. Diese Mauer ist weg, ein für alle Mal. Aber quer durch unser Land sind neue Mauern entstanden: Mauern aus Frust, Mauern aus Wut und Hass. Mauern der Sprachlosigkeit und der Entfremdung. Mauern, die unsichtbar sind, aber trotzdem spalten. Mauern, die unserem Zusammenhalt im Wege stehen.“
Steinmeier endet mit einem Ausblick – und dem Aufruf, sich für „den Zusammenhalt in unserem Land“ einzusetzen: „Wenn wir uns heute Abend mit Dankbarkeit, mit Tränen in den Augen, an die Mutigen von damals erinnern, dann können wir doch nicht gleichzeitig dabei zugucken, wie das, was sie erkämpft haben, in Vergessenheit gerät“, ruft er. „Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen ausgegrenzt und angegriffen werden, dass die Demokratie verhöhnt, dass der Zusammenhalt in diesem Land zerstört wird!“ Dafür gibt es viel Beifall vom Berliner Publikum.
Die neuen Mauern „quer durch unser Land“ seien nun „Mauern aus Frust, Mauern aus Wut und Hass, Mauern der Sprachlosigkeit und der Entfremdung“, ruft Steinmeier: „Die neuen Mauern in unserem Land, die haben wir selbst gebaut. Und nur wir selber können sie einreißen.“
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Gedenken an die SED-Opfer: Marianne Birthler bei der Feier anlässlich der Festivalwoche in Berlin.
© Quelle: Bernd von Jutrczenka/dpa
Auch die DDR-Bürgerrechtlerin, Berliner Aktivistin und spätere Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde Marianne Birthler, die direkt im Anschluss spricht, verweist darauf, dass „die Freiheitsrevolution vom Oktober 1989, die die Mauer zum Einsturz brachte, keine Menschenleben gefordert hat“: „Dafür sind wir dankbar“, sagt sie. Es seien dennoch viele Leben in den 40 Jahren SED-Diktatur zerstört worden – Birthler erinnert an Schicksale inhaftierter und gestorbener Dissidenten und DDR-Flüchtlinge, und auch an Oppositionelle, die drangsaliert und verraten wurden. Einige nennt sie mit Namen, danach ruft sie zu einem Schweigemoment auf, dem das Publikum auf dem Pariser Platz folgte – ein weiterer emotionaler Moment der Gedenkfeier.
Birthler: Heutige Klimaschützer sind Erben der 89er
Birthler knüpft ebenfalls an die Lage im heutigen Deutschland an. Ohne die aktuellen Versuche von Rechtspopulisten zu nennen, Slogans wie „Wir sind das Volk“ oder die Wende insgesamt zu vereinnahmen, betont sie: Die Demonstranten von 1989 seien „für ein offenes Land mit freien Menschen“ auf die Straße gegangen.
„Deshalb haben nur diejenigen Menschen das moralische Recht, sich auf die Revolution vom Herbst 1989 zu berufen, die auch heute für Offenheit und Freiheit eintreten“, sagt sie unter großem Applaus. „Wer dagegen seinem Hass freien Lauf lässt und das Leben von anderen mit Worten und Taten bedroht, ist nicht besser als die Stasi, die Menschenleben zersetzte und zerstörte.“ Nationalisten und Rassisten würden die Werte von 1989 ebenso verraten wie die des Grundgesetzes, sagt Birthler. Auch dafür wird sie in Berlin bejubelt. Die Behauptung, „es gebe bei uns keine Meinungsfreiheit“ bezeichnet sie als Verleumdung.
Als Erbe von 1989 sieht sie die Verteidigung von Minderheiten und Ausgegrenzten, ebenso die Solidarität mit Freiheitsbewegungen wie derzeit in Hongkong. Und auch wer sich heute für den Klimaschutz einsetze, „steht in der Nachfolge derjenigen, die in der DDR Studienplatz, Beruf und Freiheit riskierten, um gegen den Dreck von Bitterfeld, gegen Mülldeponien und verschmutzte Gewässer zu protestieren“, so Birthler. „Wenn wir unsere Freiheit wertschätzen und verteidigen, dann – egal, wie alt wir sind und woher wir kommen – dann können wir uns alle Neunundachtziger nennen.“