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Kapitolsturm als Propagandamittel

Trump wirbt mit Gefangenenchor um Stimmen

Grabgesang oder patriotischer Weckruf? Donald Trump nahm „Justice for All“ mit einem Gefangenenchor auf, hier erklingt das Lied bei einer Kundgebung in Waco Ende März.

Grabgesang oder patriotischer Weckruf? Donald Trump nahm „Justice for All“ mit einem Gefangenenchor auf, hier erklingt das Lied bei einer Kundgebung in Waco Ende März.

Washington. Die Komposition ist äußerst schlicht, der Klang blechern. „Justice for All“ ist ein Zusammenschnitt aus der US-Hymne und von Donald Trump zitierten Worten aus dem Treuegelöbnis an die Vereinigten Staaten. Das Lied klingt eher wie ein Grabgesang denn ein patriotischer Weckruf. Aber genau das soll der Song offenbar sein, den der Ex-Präsident zusammen mit einem Gefangenenchor aufgenommen hat – und zwar mit Häftlingen, die wegen ihrer Verwicklung in den Sturm aufs Kapitol am 6. Januar 2021 zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden.

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Trotz aller klanglichen Einbußen – der Part des Gefangenenchors „J6 Prison Choir“ wurde per Telefon eingespielt – hat das Lied eine erkleckliche Anhängerschaft gewonnen, obwohl es so gar nichts vom Gefangenenchor aus Beethovens Freiheitsoper „Fidelio“ hat. Trump selbst geht damit hausieren. Kürzlich spielte er es bei einer Kundgebung in Waco in Texas. Und im vergangenen Monat erreichte die Aufnahme kurzzeitig sogar Platz eins bei iTunes.

Für Extremismus- und Propagandaexperten ist die Präsentation ein weiteres Beispiel dafür, wie Trump und seine überzeugteste Anhängerschaft versuchen, das Geschehen vom 6. Januar 2021 reinzuwaschen und es vielmehr als Akt des patriotischen Widerstands darzustellen. An diesem Tag sollte im Kongress der Wahlsieg des neuen Präsidenten Joe Biden bestätigt werden. Außer Kontrolle geratene Anhänger des abgewählten Vorgängers Trump stürmten das Parlamentsgebäude, verwüsteten es, trieben Abgeordnete in die Enge. Fünf Menschen verloren ihr Leben, Dutzende wurden verletzt. Zuvor hatte Trump zum Protest und Widerstand gegen seinen angeblich gestohlenen Wahlsieg aufgerufen.

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„Es überrascht irgendwie nicht, dass diese Propaganda wirksam ist“, sagt Federico Finchelstein von der New School for Social Research in New York, ein Fachmann auf dem Gebiet autoritäre Desinformation. „Aber es ist schockierend, dies in diesem Land zu sehen.“ Es werde praktisch gefordert, dass die Realität der Loyalität zu einem Anführer weichen müsse. „Und dieser Anführer ist in dem Fall Donald Trump.“

Bei den Sicherheitskräften, die beim Sturm aufs Kapitol versuchten, die Randalierer im Zaum zu halten, macht sich Entsetzen breit. Sie sprechen von einem zynischen Versuch, die Amerikanerinnen und Amerikaner über die wahren Geschehnisse in die Irre zu führen.

Umfragen zufolge sind die US-Bürger ideologisch gespalten, was die Ereignisse von damals angeht. So erklärten in einer Erhebung von Associated Press-NORC Center for Public Affairs Research im vergangenen Jahr etwa die Hälfte der Befragten, Trumps Beteiligung rechtfertige eine Strafverfolgung. In einer weiteren Umfrage waren auf der anderen Seite nur 40 Prozent der Republikaner der Ansicht, dass der Angriff sehr oder extrem gewaltsam gewesen sei.

Mit Merchandise zum Kapitolsturm Geld machen

Inzwischen brüsten sich selbst an der Randale beteiligte, die sich vor Gericht unter Tränen entschuldigt hatten, mit ihrer Teilnahme an den Unruhen – oder versuchen, finanziell davon zu profitieren. T-Shirts und Gegenstände mit der Aufschrift „Free the Jan. 6 Protesters“ (Freiheit für die Protestierenden vom 6. Januar) werden zum Verkauf angeboten und wecken den Anschein, dass es sich bei den Randalierern um prinzipientreue Demonstrantinnen und Demonstranten handelte.

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Viele beteiligte Gruppen erklären, dass sie versuchen, Geld für die Angeklagten und ihre Familien zu sammeln. Auch bei „Justice for All“ ist das der Fall. Wohin Einnahmen aus dem Lied tatsächlich fließen, ist aber kaum in Erfahrung zu bringen. Neben der Möglichkeit, das Lied für 1,29 Dollar bei iTunes herunterzuladen, gibt es altmodische Schallplatten in verschiedenen Farben. Die Preisspanne liegt zwischen 99,99 Dollar (rund 91 Euro) und 199,99 Dollar.

Aussage eines Angeklagten „höchst zweifelhaft”

Die 20 Insassen, die im Chor der J6-Gefangenen singen, sind nur ein Bruchteil von rund 1000 Personen, die im Zusammenhang mit dem Sturm aufs Kapitol nach Bundesrecht angeklagt wurden. Gegen mehr als 450 wurden Strafen verhängt, mehr als die Hälfte von ihnen wurde zu Haft zwischen sieben Tagen und zehn Jahren verurteilt.

Von den Chormitgliedern ist nur eines identifiziert: Timothy Hale-Cusanelli, der für seine Beteiligung an den Unruhen vom 6. Januar eine vierjährige Haftstrafe verbüßt. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 33-Jährigen vor, andere Randalierer zum „Vormarsch“ aufgefordert zu haben. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, wie er Sicherheitskräfte mit Schimpfwörtern überzieht.

Trump greift nach Anklageverlesung die Justiz an
News Bilder des Tages April 4, 2023, New York, New York, USA: A person holds a sign with a picture of Trump behind bars wearing a prison uniform and an American flag near Manhattan Criminal Court while former President Donald Trump is at his arraignment for charges related to his part in the payment of hush money to Stormy Daniels. The arraignment brought heavy security, massive numbers of news media, Trump supporters and anti-Trump protesters to the area surrounding the Manhattan Criminal Court. New York USA - ZUMAr174 20230404_znp_r174_084 Copyright: xGinaxMxRandazzox

Der frühere US-Präsident Donald Trump hat nach der historischen Verlesung der Anklage gegen ihn seine Unschuld beteuert und greift nun die Justiz an.

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Im Zeugenstand sagte Hale-Cusanelli aus, er habe nicht gewusst, dass der Kongress im Kapitol tagte oder dass er an diesem Tag tagte, um den Sieg Bidens über Trump zu bestätigen. „Ich weiß, das klingt idiotisch, aber ich komme aus New Jersey“, erklärte er. In seiner schulischen Laufbahn habe er nicht mitbekommen, dass es ein Gebäude namens Kapitol gebe. Das Gericht stufte diese Aussage als „höchst zweifelhaft“ ein.

Bei seiner Verurteilung im September drückte Hale-Cusanelli sein Bedauern über seine Rolle bei den Unruhen aus. „Mein Verhalten an diesem Tag war inakzeptabel, ich habe Schande über meine Uniform und über das Land gebracht“, erklärte er. Wenn es irgendetwas gebe, mit dem er den Schaden wiedergutmachen könne, sei er bereit, sagte er dem Gericht.

RND/AP

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