E-Paper
Newsletter „Krisen-Radar“

Die Ukraine gehört in die Nato – und muss dafür eine konkrete Perspektive bekommen

Die Flagge der Nato.

Die Flagge der Nato.

Liebe Leserin, lieber Leser,

bei einer Ukraine-Recherchereise im März legten mein Team und ich auf dem Weg vom Donbass nach Mykolajiw zum Abendessen eine kurze Pause im Moshe ein, einem hippen jüdischen Restaurant in Dnipro. Gefrühstückt hatten wir noch in Slowjansk, in dem einfachen Café standen Soldaten Schlange am Tresen, für sie gab es Kompott gratis. Die Kellnerinnen kehrten regelmäßig den Schlamm hinaus, den die Soldaten mit ihren Kampfstiefeln hineintrugen. Das Moshe bot einen fast schon irritierenden Kontrast: Modern eingerichtet, Kunst an den Wänden und sogar auf der Toilette. Zum Double-Challah-Burger können Gäste Negroni bestellen.

Am Tisch neben uns saßen zwei junge Frauen mit rot gefärbten Haaren, eine von ihnen hatte blau lackierte Fingernägel, die andere trug einen Lederminirock. Der Krieg schien weit weg, so kam es mir zumindest vor – bis wir mit Veronika (22) und Irina (19) ins Gespräch kamen. „Eigentlich ist er ganz nahe“, sagte Veronika. „Unsere Schulfreunde kämpfen an der Front.“ Bekannte hätten in dem Hochhaus gewohnt, in dem kurz zuvor bei einem russischen Raketenangriff auf Dnipro Dutzende Menschen ums Leben kamen. Die beiden Frauen berichteten auch von der Belastung, wenn immer wieder Luftalarm ausgelöst wird. Für sie war der Restaurantbesuch eine Chance, den Horror des russischen Angriffskrieges auf ihr Land zumindest für wenige Stunden zu verdrängen.

Veronika (links) und Irina im jüdischen Restaurant Moshe in Dnipro.

Veronika (links) und Irina im jüdischen Restaurant Moshe in Dnipro.

Kein Menschenleben in der Ukraine ist vom russischen Überfall unberührt geblieben, auch wenn sich das in manchen Fällen erst auf den zweiten Blick zeigt. Wir sind es nicht nur Europäerinnen wie Veronika und Irina schuldig, der Ukraine beizustehen. Ich bin auch der festen Überzeugung, dass unsere Unterstützung in unserem ureigenen Interesse ist, weil die Ukrainerinnen und Ukrainer dem imperialistischen Streben von Kremlchef Wladimir Putin notgedrungen Einhalt gebieten. Sie kämpfen dabei auch für unsere Werte – und dafür, dass russische Truppen nicht als nächstes Moldau oder einen Nato-Staat im Baltikum angreifen.

Deswegen bin ich schon lange dafür, der Ukraine alle Waffen zur Verfügung zu stellen, die sie benötigt, um die Besatzer zu vertreiben. Besonders Deutschland hat da eine manchmal quälend langsame, aber positive Entwicklung durchgemacht: Von 5000 Helmen zu Kriegsbeginn, mit denen wir uns zum Gespött in Kiew und Washington machten, zu Leopard-2-Kampfpanzern heute. Absehbar ist, dass andere westliche Staaten der Ukraine auch moderne Kampfjets vom Typ F-16 liefern werden, was vor wenigen Monaten noch auf breiten Widerstand in den meisten Nato-Staaten stieß.

Der nächste logische Schritt ist, der Ukraine beim Nato-Gipfel in Vilnius im kommenden Monat endlich eine konkrete Beitrittsperspektive zu geben. „Europäische Staaten haben die Nato-Bewerbung der Ukraine jahrelang ignoriert, um Moskau nicht zu verärgern – und das mit absolut null Wirkung“, kritisiert der frühere ukrainische Verteidigungsminister Andrij Sahorodnjuk in einem Beitrag für das Außenpolitikmagazin „Foreign Affairs“. „Es ist also an der Zeit, die Ukraine beitreten zu lassen – nicht früher oder später, sondern jetzt.“

Die Außenminister der Nato-Staaten haben sich letzte Woche in Oslo getroffen. Es war ein informelles Treffen, als Vorbereitung auf den Nato-Gipfel in Vilnius. Zu besprechen gab es einiges – nicht nur mit Blick auf die Ukraine.

Die Außenminister der Nato-Staaten haben sich letzte Woche in Oslo getroffen. Es war ein informelles Treffen, als Vorbereitung auf den Nato-Gipfel in Vilnius. Zu besprechen gab es einiges – nicht nur mit Blick auf die Ukraine.

Sahorodnjuk argumentiert, dass dadurch nicht nur die Zukunft seines Landes als Teil des Westens gesichert, sondern dass auch Europa profitieren würde. „Tatsächlich wird Europa niemals vor Russland sicher sein, bis es Moskaus Angriffen militärisch Einhalt gebieten kann“, schreibt er. „Und kein Staat ist dazu besser qualifiziert als die Ukraine. (…) Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die ukrainischen Streitkräfte aufgrund ihrer Erfahrung und Fähigkeiten im Landkrieg die besten in ganz Europa sein könnten.“ Er führt zudem an, auch die Bundesrepublik sei mitten im Kalten Krieg in die Nato aufgenommen worden, als Deutschland geteilt war.

Sahorodnjuk räumt selbst ein, dass seine Forderung nach einer sofortigen Aufnahme der Ukraine derzeit keine Chancen auf Verwirklichung hat. Zu groß ist die Sorge in Berlin und anderen westlichen Hauptstädten, dass die Nato dadurch endgültig in den Krieg hineingezogen werden würde – und dann die Frage auch noch nach der letzten logischen wie brutalen Konsequenz beantwortet werden müsste, ob der Westen auch noch Bodentruppen schickt. Ein Friedensabkommen zwischen Kiew und Moskau zur Voraussetzung für einen Beitritt zu machen, erscheint aber ebenfalls unrealistisch: Niemals würde der russische Präsident Wladimir Putin sich auf ein Abkommen einlassen, das die Ukraine in der Folge zum Nato-Bündnisstaat machen würde. Er hätte damit de facto ein Vetorecht.

Wie ruchlos der Kriegsverbrecher Putin vorgeht, hat er seit dem Überfall auf die Ukraine immer wieder gezeigt. In dieses Schema würde auch die Sprengung des Kachowka-Staudamms in der Südukraine passen. Auch wenn die Urheberschaft nicht abschließend geklärt ist: Dass Russland die Verantwortung dafür zurückweist, gehört wahrscheinlich zu der Phalanx an Lügen, die seit Kriegsbeginn aus Moskau kommen. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach im Zusammenhang mit der Sprengung des Staudamms von einer „neuen Dimension“, die dazu passe, wie Putin diesen Krieg führe. Umso dringlicher ist eine Nato-Perspektive für die Ukraine.

Monatelang hatte Kiew gewarnt, nun ist der Ernstfall offenbar eingetreten: Russische Truppen sollen den großen Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine gesprengt haben. Beide Kriegsparteien machen sich gegenseitig verantwortlich. Die Folgen könnten verheerend sein.

Monatelang hatte Kiew gewarnt, nun ist der Ernstfall offenbar eingetreten: Russische Truppen sollen den großen Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine gesprengt haben. Beide Kriegsparteien machen sich gegenseitig verantwortlich. Die Folgen könnten verheerend sein.

Die Nato sollte in Vilnius mit dem Beitrittsprozess beginnen, dem sogenannten Membership Action Plan. Was die Ukraine bereits vor einer Nato-Mitgliedschaft bekommen muss, sind weitreichende Sicherheitsgarantien. Der frühere außenpolitische Berater von Kanzlerin Angela Merkel, Christoph Heusgen, und der frühere nationale Sicherheitsberater von US-Präsident George W. Bush, Stephen Hadley, sprechen sich in einem Gastbeitrag für das RND für eine Art Israel-Modell aus, sollte der Krieg ohne Einigung enden. Vorbild wäre das Engagement der USA für Israel, was zugleich eine Stationierung ausländischer Truppen ausschließen würde.

„In diesem Fall sollten sich Europa, die Vereinigten Staaten und andere Unterstützer der Ukraine dazu verpflichten, diese mit Ausbildung, nachrichten­dienstlichen Informationen und Ausrüstung zu versorgen und die Verteidigungs­industrie des Landes aufzubauen“, schreiben Heusgen und Hadley. „So würde die Ukraine dazu befähigt, einen erneuten russischen Angriff abzuschrecken und sich gegen einen solchen zu wehren, sollte die Abschreckung versagen.“

Ein Ende des Ukraine-Kriegs ist nicht absehbar. Schon jetzt ist aber klar, dass Putin neben vielen weiteren Kriegszielen auch jenes verfehlt hat, die Nato zu spalten. Nicht nur steht das Bündnis weiterhin weitestgehend geschlossen zur Ukraine, es ist heute stärker denn je: Finnland ist infolge des russischen Angriffskrieges beigetreten, und nach der Türkei-Wahl dürfte Präsident Recep Tayyip Erdogan bald auch seinen Widerstand gegen die Aufnahme Schwedens aufgeben. Wie lange diese Geschlossenheit andauert, ist allerdings unklar: Als US-Präsident hat Donald Trump die Nato in ihren Grundfesten erschüttert, im kommenden Jahr will er erneut ins Weiße Haus einziehen. Womöglich bleibt nicht mehr viel Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen.

Bis zur nächsten Ausgabe

Ihr Can Merey

Krisen-Radar

RND-Auslandsreporter Can Merey und sein Team analysieren die Entwicklung globaler Krisen im neuen wöchentlichen Newsletter zur Sicherheitslage. Jetzt kostenlos anmelden und in Kürze die erste Ausgabe erhalten.

Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.

 

Was gerade passiert

Einige EU-Staaten wollen künftig härter gegen Drogenschmuggel vorgehen.

Einige EU-Staaten wollen künftig härter gegen Drogenschmuggel vorgehen.

  • Einige EU-Staaten, darunter auch Deutschland, wollen stärker gegen organisierte Kriminalität vorgehen. Bei einem Ministertreffen im belgischen Antwerpen ging es vor allem um Drogenschmuggel. Zusammen mit Belgien, Frankreich, Italien, den Niederlanden und Spanien will Deutschland die Häfen besser schützen, um Drogen aus Südamerika abzufangen.
  • Der Iran hat die erste Hyperschallrakete des Landes vorgestellt. Die Führung des islamischen Landes behauptet, dass das Programm der Verteidigung und zivilen Zwecken diene. Im Westen macht man sich Sorgen, dass das Raketenprogramm den Nahen Osten und die Golfregion gefährdet.
  • Es ist weiter unklar, ob die von der Ukraine angekündigte Gegenoffensive begonnen hat. Am Montag meldete Russland einen gescheiterten ukrainischen Großangriff im Süden von Donezk. Innerhalb von 24 Stunden seien mehr als 900 Ukrainer getötet worden, teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Kiew bezeichnete die Berichte als Desinformationskampagne.

Alle Entwicklungen zum Krieg im Liveblog

 

Die Story des Tages

DIESES FOTO WIRD VON DER RUSSISCHEN STAATSAGENTUR TASS ZUR VERFÜGUNG GESTELLT. [RUSSIA, MOSCOW - MAY 26, 2023: Special Representative of the Chinese Government on Eurasian Affairs Li Hui during talks with Russia’s Foreign Minister Sergei Lavrov at the Russian Foreign Ministry headquarters. Russian Foreign Ministry Press Service/TASS]

Chinas Sondergesandter für die Ukraine: Li Huis unmögliche Mission

Chinas Sondergesandter für die Ukraine ist mit leeren Händen von seiner Verhandlungs­reise zurückgekehrt. Zudem ließ er keine Abkehr von seiner russland­freundlichen Position erkennen.

 

Mehr lesen mit dem +

 

Klare Ansage

Das ist etwas, das eine neue Dimension hat, aber zu der Art und Weise passt, wie Putin diesen Krieg führt.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zur Staudammzerstörung in der Ukraine

Zum Artikel

 

Vorschau

Am Donnerstag besucht Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) Kolumbien. In einem Gespräch mit Vizepräsidentin Francia Márquez wird es um den Friedensprozess im Land gehen. Die Führung des Landes verhandelt derzeit mit mehreren bewaffneten Gruppen. Seit Ende des vergangenen Jahres galt eine einseitige staatliche Waffenruhe. Der Plan von Präsident Gustavo Petro ging aber nicht auf: Viele Gruppen nutzten die Situation für weitere Verbrechen. Die Waffenruhe wurde deshalb wieder aufgekündigt. Viele im drittgrößten Land Lateinamerikas kritisieren den linken Präsidenten für zu ambitionierte Ziele, die er unter dem Begriff „totaler Frieden“ verfolgt. Von den Hoffnungen, die es nach dem Friedensschluss mit der Rebellengruppe Farc 2016 gab, ist nicht viel geblieben.

Kolumbiens Präsident Gustavo Petro ist Seit August 2022 im Amt. Seine Fortschritte im Friedensprozess sind bislang klein.

Kolumbiens Präsident Gustavo Petro ist Seit August 2022 im Amt. Seine Fortschritte im Friedensprozess sind bislang klein.

 

Abonnieren Sie auch

Der Tag: Das Nachrichten-Briefing vom RedaktionsNetzwerk Deutschland. Jeden Morgen um 7 Uhr.

Unbezahlbar: Wertvolle Tipps und Hintergründe rund ums Geld – immer mittwochs.

Hauptstadt-Radar: Persönliche Eindrücke und Hintergründe aus dem Regierungsviertel. Immer dienstags, donnerstags und samstags.

Klima-Check: Erhalten Sie die wichtigsten News und Hintergründe rund um den Klimawandel – jeden Freitag neu.

Das Leben und wir: Der Ratgeber für Gesundheit, Wohlbefinden und die ganze Familie – jeden zweiten Donnerstag.

What’s up, America? Der USA-Newsletter liefert Hintergründe zu den Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Kultur – jeden zweiten Dienstag.

Das Stream-Team: Die besten Serien- und Filmtipps für Netflix und Co. – jeden Monat neu.

Mehr aus Politik

 
 
 
 
 

Verwandte Themen

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken