„Gemeinsamer Wohlstand“ am Ende? Xi Jinpings Vision steht auf der Kippe
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Eine Rede des chinesischen Präsidenten Xi Jinping wird in einem Einkaufszentrum übertragen.
© Quelle: Ng Han Guan/AP/dpa
Was mehreren Tausend Kleinsparern in der zentralchinesischen Provinz Henan widerfahren ist, dürfte ihre Weltsicht von Grund auf erschüttert haben. Seit Monaten bereits haben sie keinen Zugriff mehr auf ihre Konten, nachdem diese von vier ländlichen Banken nach einem mutmaßlichen Spekulationsskandal eingefroren wurden.
Doch mindestens ebenso empörend war die Reaktion der Zentralregierung: Diese hielt sich lange Zeit damit zurück, den gebeutelten Opfern eine Garantie für ihre Ersparnisse zu geben. Stattdessen ließ sie die aufgebrachten Leute, die sich zu Protesten versammelt hatten, kurzerhand von Sicherheitspolizisten abführen und von örtlichen Schlägertrupps verprügeln – und die schockierenden Zeitzeugenberichte in sozialen Medien umgehend zensieren.
Wirtschaftswachstum kommt quasi zum Erliegen
Bei dem Bankenskandal in Henan mag es sich zwar volkswirtschaftlich gesehen nur um eine vergleichsweise geringe Summe handeln, aber dennoch legt er eine Urangst innerhalb der Bevölkerung frei. Seit Beginn der wirtschaftlichen Öffnung des Landes wird die Gesellschaft schließlich vor allem von einem stillen Übereinkommen zusammengehalten: Die Chinesen geben bereitwillig ihren Anspruch auf politische Mitsprache ab, solange die Parteiführung in Peking für eine stete Verbesserung des materiellen Lebensstandards sorgt.
Und jahrzehntelang ging der Plan auch exzellent auf: Zwischen 1978, dem Beginn der Reformpolitik Deng Xiaopings, und dem Amtsantritt Xi Jinpings im Jahr 2013 ist das Bruttoinlandsprodukt Chinas um mehr als das 64-fache gestiegen.
Doch spätestens im Zuge der dogmatischen Null-Covid-Politik hat sich das Blatt vollkommen gewendet. Das Wirtschaftswachstum ist praktisch zum Erliegen gekommen: Zwischen April und Juni wuchs das Bruttoinlandsprodukt im Jahresvergleich nur noch um 0,4 Prozent. Nimmt man das erste Jahresquartal als Vergleichswert, dann ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt gar um satte 2,6 Prozent geschrumpft.
Jeder fünfte Chinese bis 24 hat kein Einkommen
Die unmittelbaren Auswirkungen der drohenden Rezession zeigen sich immer deutlicher. Von der überhitzten Immobilienbranche, einer der zentralen Säulen der heimischen Volkswirtschaft, droht bereits eine Abwärtsspirale, die die US-Nachrichtenagentur Bloomberg unlängst als chinesischen Lehman-Brothers-Moment bezeichnet hat: Aktuell weigern sich Zehntausende Chinesen und Chinesinnen, ihre Hypothekenzahlungen fortzusetzen, da ihre Apartmentsiedlungen unfertig in der Landschaft herumstehen. Und wie das Wirtschaftsmagazin „Caixin“ am Dienstag berichtete, können bereits Hunderte Zulieferer der großen Bauentwickler ihre Rechnungen nicht mehr begleichen.
Gleichzeitig befindet sich die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten auf einem historischen Rekordhoch: Fast jeder fünfte Chinese zwischen 16 und 24 Jahren hat derzeit kein Einkommen. Dass die Werte weiter nach oben schießen werden, scheint nahezu sicher: Allein dieses Jahr strömen mit knapp elf Millionen Universitätsabsolventen und ‑absolventinnen so viele junge Menschen auf den Arbeitsmarkt wie noch nie. Viele von ihnen werden sich trotz guter Qualifikation mit prekären Gelegenheitsjobs abfinden müssen. Laut einer Prognose der US-Bank Merill Lynch könnte die Jugendarbeitslosigkeit noch in diesem Jahr auf bis zu 23 Prozent ansteigen.
Örtliche Zentralbank friert Kundengelder ein: Tausende Menschen fordern ihr Geld zurück
In der chinesischen Provinz Henan hatten einige lokale Banken Kundengelder seit April einbehalten. Die Polizei reagierte mit roher Gewalt auf die Proteste.
© Quelle: Reuters
Die wirtschaftliche Misere ist dabei zu weiten Teilen hausgemacht. Und sie hat nicht nur mit der dogmatischen Null-Covid-Politik zu tun, die aufgrund der stets drohenden Lockdowns den Unternehmen jedwede Planungssicherheit raubt. Auch Pekings exzessive Regulierungswelle gegen die Techbranche, die immerhin die international erfolgreichsten Konzerne des Landes hervorgebracht hat, sorgte im letzten Jahr für bisher nie da gewesene Massenentlassungen. Von Alibaba über Tencent bis hin zum Streamingdienst Iqiyi haben sämtliche Marktriesen große Teile ihrer Belegschaft gekündigt, meist im zweistelligen Prozentbereich.
Ohne Frage steht Xi Jinping – kurz vor Ende seiner zweiten Amtszeit – vor der bisher größten Herausforderung in seiner politischen Laufbahn. Schließlich ist der 69-Jährige vor allem mit der Vision angetreten, die chinesische Gesellschaft fairer und gerechter zu gestalten. „Gemeinsamer Wohlstand“ lautet der propagierte Paradigmenwechsel, den Xi in praktisch jeder seiner Reden umreißt. Das Konzept ist auch eine Reaktion auf die Goldgräberstimmung der 2000er-Jahre, in der Chinas Bruttoinlandsprodukt zwar im zweistelligen Prozentbereich wuchs, doch gleichzeitig auch Korruption, exzessiver Reichtum und radikale Ungleichheit wucherten.
Was Xi Jinping für Unternehmer besonders beängstigend macht, ist, dass er sämtliche Bereiche der Gesellschaft umgestaltet.
Desmond Shum,
Bauentwickler
Doch bislang ist Xi Jinpings Vision vom „gemeinsamen Wohlstand“ nichts weiter als eine vage Formulierung, die sich im rhetorischen Nebel der Kommunistischen Partei einer konkreten Definition entzieht. Die Maßnahmen, die Chinas Staatschef bislang angekündigt hat, wirken eher populistisch denn nachhaltig. So wurden Unternehmen dazu verdonnert, mehr überschüssige Gewinne in Form von philanthropischen Spenden an die Allgemeinheit zurückzugeben; und Banken sollen die „exzessiven“ Gehälter ihrer Vorstände drosseln.
Der Bauentwickler Desmond Shum, der mittlerweile im Londoner Exil lebt, schaut aus der Ferne überaus skeptisch auf die Entwicklungen in seinem Heimatland: „Was Xi Jinping für Unternehmer besonders beängstigend macht, ist, dass er sämtliche Bereiche der Gesellschaft umgestaltet: wie Wohlstand generiert wird, Technologien reguliert werden und wie das Bankensystem funktioniert“, sagt Shum, der in den 2000er-Jahren zur Pekinger Elite zählte und unter anderem mit der Familie des damaligen Premiers Wen Jiabao verkehrte. Damals, so räumt der Geschäftsmann ein, sei zwar auch die Ungleichheit in China gewachsen, doch ebenso wurden über 100 Millionen Arbeitsmigranten und ‑migrantinnen aus der Armut gehoben. Derzeit würde keine Bevölkerungsschicht ökonomisch profitieren.
Die Achillesferse: schwacher Binnenkonsum
Wie weit die Volksrepublik vom „gemeinsamen Wohlstand“ entfernt ist, haben zuletzt die aktuellen Daten des nationalen Statistikamts ergeben. Demnach müssen von den 1,4 Milliarden Chinesen und Chinesinnen nach wie vor mehr als 960 Millionen Menschen mit einem monatlichen Einkommen von unter 2000 Renminbi auskommen, umgerechnet sind das weniger als 290 Euro. Der schwache Einkommensanteil der Bevölkerung am Bruttoinlandsprodukt legt auch die ökonomische Achillesferse der chinesischen Wirtschaft offen: den schwächelnden Binnenkonsum.
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Höherer Leitzins erwartet: Diese sechs Fakten sollten Anleger jetzt kennen
Mit der erwarteten Anhebung des Leitzinses nach elf Jahren greift die Europäische Zentralbank tief in unser aller Leben ein. Zwar besteht endlich wieder die Aussicht auf Guthabenzinsen bei der Geldanlage auf Sparkonten, zugleich verteuern sich aber auch Kredite und Darlehen in einem lange Zeit nicht gekannten Ausmaß.
Dementsprechend hoch ist die Gefahr, dass China in der sogenannten „middle income trap“ gefangen bleiben könnte, aus der es bislang nur wenige ehemalige Entwicklungsländer – allen voran Südkorea, Taiwan und Singapur – heraus geschafft haben. Das rapide Wachstum der Volksrepublik China beruhte nicht zuletzt auf günstigen Arbeitskräften, gepaart mit einem Staat, der seine reichhaltigen Ersparnisse massiv in Infrastruktur, Technologie und Produktionskapazitäten investierte.
Notwendige Reformen gefährden die soziale Stabilität
Doch jenes Wirtschaftsmodell gerät schon bald an seine Grenzen: Um nachhaltig zu wachsen, müsste das Land den Binnenkonsum ankurbeln, indem es seine Einkommensverteilung neu justiert. Die dafür notwendigen Reformen würden jedoch einen schmerzhaften Übergangsprozess auslösen, vor dem sich die um soziale Stabilität besorgte Regierung wohl zu Recht sorgt.
Doch das Zeitfenster für China droht sich langsam zu schließen: Der demografische Wandel schreitet rasant voran, die Geburtenrate befindet sich gleichzeitig auf einem Rekordtief. Dementsprechend setzt das Abflachen der jährlichen Wachstumsraten derzeit viel zu früh ein: Trotz des beachtlichen Aufstiegs der Volksrepublik China hat sie nämlich gemessen am BiP pro Kopf nur ein Drittel des Niveaus von Südkorea und ein Achtel des Niveaus der Schweiz erreicht.
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