Kommentar zum Jahrestag des Pogroms

30 Jahre Rostock-Lichtenhagen: die falschen Schlüsse, die wir zogen

Rostock im August 1992: Ein Mann steht vor einem brennenden Pkw auf einer Straße am zentralen Asylbewerberheim von Mecklenburg-Vorpommern in Rostock-Lichtenhagen.

Rostock im August 1992: Ein Mann steht vor einem brennenden Pkw auf einer Straße am zentralen Asylbewerberheim von Mecklenburg-Vorpommern in Rostock-Lichtenhagen.

Wer die Fernsehbilder bewusst gesehen hat, hat sie bis heute vor Augen: Die Wut, die in Hass umschlug. Die Flammen, die aus dem Plattenbau schlugen, die Todesangst der Menschen drinnen, der Applaus der Menschen draußen. In diesen Tagen ist es 30 Jahre her, dass in Rostock-Lichtenhagen Proteste gegen ein überfülltes Asylheim umschlugen in ein rassistisches Pogrom, das von einem Mob angeheizt und von der Polizei tagelang nicht gebändigt wurde.

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Lichtenhagen war eine Zäsur, die bis heute nachwirkt: In die – aus westdeutscher Sicht – vermeintlich heile Wiedervereinigungswelt platzten die massivsten fremdenfeindlichen Angriffe der Nachkriegszeit, ausge­rechnet in den neu angeschlossenen, vom Westen durchgefütterten Ostgebieten. Erst heute wissen wir, dass viele der Schlüsse und Erklärungsversuche von damals falsch waren.

Damals folgte auf den Schock über die Gewalt und vor allem über den Jubel, den sie bei ganz normalen Bürgern auslöste, allzu schnell die Deutung von Lichtenhagen als Symptom ostdeutscher Probleme. Richtig ist zwar, dass zur explosiven Mischung neben der Überforderung aller Beteiligten und dem Politikversagen auch das Gefühl des Nicht-gehört-Werdens beitrug – und das größere Ausmaß an Fremdenfeindlichkeit in der Ex‑DDR.

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Nicht nur im Osten

Falsch war aber die Vorstellung, dass die Gedanken und Taten, die dazu führten, dem Westen fremd seien. Was die – auch in Rostock durch eine radikale Minderheit ausgeführte – Gewalt angeht, so folgte bald eine Welle rassistischer Anschläge, die auch Westdeutschland erfasste. Die ersten Toten waren im nordrhein-west­fälischen Solingen und im schleswig-holsteinischen Mölln zu beklagen. Die Radikalisierung der Rechts­extre­men zu Terroristen führte im Osten zu den Morden des NSU, in Hessen zu denen in Hanau und an Walter Lübcke.

Duc Ta Minh haben die Ereignisse in Lichtenhagen vor 30 Jahren noch lange bis in seine Träume verfolgt. Heute lebt er in Warnemünde.

„Ich war doch hier zu Hause“: Erinnerungen an Rostock-Lichtenhagen 1992

Die rassistischen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen jähren sich in diesem Jahr zum 30. Mal. Ein damals Dreijähriger erzählt von seinen Erinnerungen und wie es ihm heute geht.

Die Abscheu gegen diese Taten ist groß, Applaus kommt bestenfalls von extremistischen Minderheiten. Relativierung und Kleinreden findet sich aber auch in bürgerlichen Schichten – und erst recht das Grund­rauschen vor den Taten, das sich die Terroristen als heimliche Legitimation auslegten, wie zuvor die Brand­satzwerfer von Lichtenhagen.

Auch vor 30 Jahren war die erste starke politische Reaktion der Bundespolitik die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl, wie es bis dahin gegolten hatte. Nach den Protestwellen gegen die Flüchtlingspolitik von 2015/2016 schränkte die Bundesregierung das Asylrecht weiter ein.

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Die Bundesrepublik Deutschland ist kein per se fremdenfeindliches Land. Das bewiesen vor 30 Jahren in zahlreichen Städten die Lichterketten gegen rechts, zunächst in München, Hamburg, Essen, später auch in Leipzig und Dresden; das zeigte aber auch die Willkommenskultur, die nach 2015 viele Mängel der Bundes­politik ehrenamtlich ausglich, und das zeigt sich heute erneut in der Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine.

Es ist aber auch nicht so, dass der Schock von Lichtenhagen jenes Grundrauschen verstummen ließ, dessen Eskalation zwar nur bei Einzelnen in Mordfantasien endet, nur bestimmte Gruppen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ grölen und vielleicht nur bestimmte Milieus dazu applaudieren lässt – dass aber in Millionen Köpfen zu einer Weltsicht führt, die sich „ideologisch auf Abstammung, Tradition und Herkunft fixiert“, wie an diesem Montag der Bestsellerautor Thilo Sarrazin bei der Vorstellung seines neuen Buchs erklärte. Das könne „zu einem undifferenzierten Hass auf das Unbekannte, das Fremde oder das kulturell Andersartige führen“, warnte er.

Ob Sarrazin mit diesen Sätzen Umdenken und Selbstkritik ausdrücken wollte oder ob er das Gefühl hat, seine früheren Thesen werden seit zwölf Jahren von den Falschen vereinnahmt? Fakt ist: Mit seinem Rekord­bestseller „Deutschland schafft sich ab“ trug Sarrazin knapp 20 Jahre nach Lichtenhagen maßgeblich dazu bei, dass die Fixierung auf Abstammung, Tradition und Herkunft durch vermeintlich wissenschaftliche, aber längst widerlegte Fakten unterfüttert und dass rassistische Schlüsse daraus salonfähig wurden.

Befreit von den Tabus, die er zu brechen half, feierte eine Partei ungeahnte Erfolge, die – einige Radikali­sierungen und Austrittswellen später – einerseits im Bundestag sitzt und andererseits direkte Kontakte zu Extremisten pflegt, die die Pogrome der Neunzigerjahre keineswegs abscheulich finden.

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So kommt es, dass zum 30. Jahrestag von Lichtenhagen der AfD-Politiker Björn Höcke im entspannten, öffentlich-rechtlichen Sommerinterview eine „Multikulturalisierung Deutschlands“ herbeireden kann, die „in wenigen Jahrzehnten zum Ende dessen führen wird, was wir deutsches Volk nennen“.

Der Westdeutsche Höcke sitzt da als Vertreter einer Partei, die im Osten bisweilen stärkste Kraft ist und verbreitet Thesen des Westdeutschen Sarrazin, der das bundesweit meistverkaufte Meinungsbuch der Nachkriegszeit geschrieben hat – und beweist so, dass die Zäsur von 1992 auf ein gesamtdeutsches Problem hingewiesen hat, das auch 30 Jahre später ungelöst ist.

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