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Vorm großen Staffelfinale

GNTM: Ich habe mein halbes Leben mit Heidi Klum verbracht

Der Schönheitswahn ist für alle da.

Der Schönheitswahn ist für alle da.

Ich kenne Heidi Klum mein halbes Leben lang. Sie stolzierte das erste Mal als Moderatorin von „Germany’s Next Topmodel“ durch meinen Röhrenfernseher, als ich 16 Jahre alt war. Ich lümmelte mit meinen Schwestern auf unserer roten ausgesessenen Couch. Wie ich die jungen schlanken Frauen bewunderte. Für ihre Schönheit, für ihre Fähigkeit, ihr Gesicht und ihren Körper in großer Grazie einer Kamera entgegenzuhalten.

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Nein, ich wollte kein Model werden. Niemals. Never ever. Ich wollte am liebsten einen Teeladen eröffnen und dort in einer mit Kissen ausgestatteten Fensternische sitzen und den ganzen Tag lesen. Mir waren die manipulierenden Mechanismen der Sendung, die maximal auf Konflikt und Eskalation ausgelegt waren, durchaus bewusst. Die Umstylings. Die Höhenshootings. Die Freundinnenkonkurrenz. Die Art und Weise, wie Heidi Klum über den Körper der Teilnehmerinnen bestimmte. Die Fixierung auf das Äußere, den Sexismus, die ausbeuterische Selbstoptimierung – all das lehnte ich eigentlich komplett ab.

Personality als Deko

Mir war und ist auch bei allem Gequatsche von „Personality“ klar, dass die Kandidatinnen auf Heidis Befehl sexy sein müssen. Aber nicht zu sexy. Vor allem sollen sie brav sein. Sie sollten sich zwar zeigen, aber ihre Stimme nicht gegen die Modeloberinstanz der Sendung richten. Ein Frauenbild aus den Fünfzigern. I know. Ich finde dieses Frauenbild erniedrigend, gestrig, komplett bescheuert, voll und ganz. Ich werde wütend, wenn ich sehe, was für einen Boden Heidi Klum mit den Nacktshootings für Übergriffe bereitet, wenn sie den Teilnehmerinnen suggeriert, dass sie sich nicht so anstellen sollen. All das.

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Und doch schaltete ich immer wieder ein. Mit meinen Schwestern habe ich mir Mirácoli reingestopft, während Heidi die Kandidatinnen darüber aufklärt, dass ein Model auf gar keinen Fall Kohlenhydrate und erst recht keine Nudeln essen sollte. Folge um Folge, Staffel um Staffel saßen wir vor dem Röhrenfernseher, bis eine Schwester nach der anderen ausgezogen ist.

Das Sofa kam mit in meine neue Wohnung; der Livestream flimmerte während meiner Studienzeit alle paar Staffeln wieder über mein Laptopdisplay. Und wenn eine junge Frau dazu gedrängt wurde, sich auszuziehen, brummte mein Freund nur, wie ich mir den Schrott ansehen könnte, und schüttelte entgeistert den Kopf.

Einschalten, obwohl ich es besser weiß

Warum? Warum habe ich mein halbes Leben mit Heidi Klum verbracht, obwohl ich schon vorab weiß, dass die wirkliche Gewinnerin der aktuellen Staffel immer und immer wieder Heidi Klum heißen würde? Auch wenn ich die Debatten über Sexismus, Magersucht, #MeToo und Diversität kenne und selbst führe?

Laut „Quotenmeter“ waren bei vergangenen Staffeln etwa 70 Prozent der Zuschauenden weiblich. Und sie sind jung: Bei der Hauptzielgruppe erreichte die Show 2022 in der 17. Staffel bei den 14- bis 49-Jährigen einen Marktanteil von 20,4 Prozent. Junge Frauen gucken jungen Frauen beim Schönsein zu.

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Körperformen.

Körperformen.

Ich lade mir nach langer Abstinenz wieder eine Sendung in den Browser, eine Folge der 17. Staffel. Wieder sitze ich auf dem roten Sofa. Inzwischen mit meiner Tochter, noch kein Jahr alt, die auf meinem Bauch eingeschlafen ist. Die Models auf dem Bildschirm sehen inzwischen etwas anders aus. Die Auswahl der Teilnehmerinnen ist in den vergangenen Jahren nach öffentlichem Druck und sinkenden Quoten diverser geworden. Manche sind runder, einige älter. Das Geraune, dass es nur eine geben kann, die absolute Konkurrenz untereinander, ist immer noch dasselbe.

Ein ästhetischer Imperativ

Bevor die angehenden Models zum Covershooting für die Zeitschrift „Harpers Bazaar“ in die kalifornischen Wüste gehen, bewundern sie sich im Spiegel. Verdammt, sind die alle schön. Sie werfen ihren Kopf unter dem strahlend blauen Himmel lässig nach hinten, schlendern mit lasziver Lässigkeit auf den Fotografen zu. Der Kamera schenken sie einen intensiven Blick mit halbgeschlossenen Liedern. Heidi klatscht dazu begeistert auf ihrem Stuhl wie ein Wackelkasper. Unwillkürlich ahmt meine Mimik die der Teilnehmerinnen nach. Mein Kinn neigt sich ebenfalls zur Seite. Mein Kreuz drückt sich leicht durch. Meine Tochter fängt durch die Bewegungen an leicht zu schnorcheln und kuschelt sich wieder ein.

Eine kleine Erleuchtung im Displaylicht: Ich gucke „Germany’s Next Topmodel“, weil ich dort sehe, wie Grazie verhandelt wird. In der Sendung erlebe ich einen ästhetischen Imperativ, nämlich, sich schlank und schön zu geben, den Heidi Klum mitnichten erfunden hat, aber ihn exemplarisch durchexerziert.

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Ich gehe noch einen Schritt zurück, gehe weit in meinem Erfahrungshorizont zurück und frage mich: Warum spricht mich dieses Austesten von Schönheit so an? Ich fand meinen Körper früher nie besonders schön. Ich mochte ihn erleben, bewegen. Aber in Sachen Attraktivität war er für mich ein blinder Fleck. Heidi Klums Sendung füllte in meiner tiefsten Pubertät diese Lücke: Sie diktiert noch heute glasklar, was allgemein als schön gilt und wie diese Schönheit verdammt noch einmal einzusetzen ist. So und so. Aber nicht so.

Ohne Tasche keine Competition

Für mich gab es damals mit 16 Jahren eine ganz einfache Rechnung. Dünn gleich schön. Schön gleich gesehen. Vollkommener Schwachsinn. Doch hatte ich dies verinnerlicht – und zwar schon lang vor der Sendung. So saugte ich Klums Einflüsterungen auf. Ich übte heimlich laufen auf High Heels. Bis heute achte ich beim Gehen darauf, die Füße voreinander und nicht nebeneinander zu setzen, am besten zum Takt einer imaginierten Musik, die Hüften dabei locker zu pendeln. Und nein, Frau Klum, meine Arme sehen dabei nicht aus wie eingegipst, wie du es einst einer Kandidatin vorgeworfen hast.

Mit 15 Jahren habe ich mit dem Joggen angefangen. Täglich, zusätzlich zu dem wöchentlichen Volleyballtraining. Ich wollte nicht gesünder werden. Ich wollte dünner werden. Auslöser war nicht die Modelrealityshow – es waren meine eigenen Freundinnen. Es waren die Regeln, die wir uns selbst auferlegt haben. Wir haben unsere Körper von außen betrachtet, von außen beurteilt – und zwar mit demselben Blick, den Heidi auf ihre Kandidatinnen wirft („Die soll den Bauch nicht so weit raushängen lassen!“). Wir kannten diesen männlichen Blick nur allzu gut: durch unzählige Filme, Fernsehshows, Romanbeschreibungen und Erzählungen im Klassenzimmer. Heldinnen mögen stark, mutig und klug sein – aber sie sind auch schön, strahlend schön. Ob sie nun Helena von Troja heißen, Hermine Granger oder Katniss Everdeen. Ich hatte das Gefühl, dass meine Welt eine andere ist, weil ich eben nicht 50 Kilogramm wiege. Ich hatte Angst, dass mich die Gesellschaft weniger lieben würde, wenn ich nicht dünn sei. Und geliebt werden, das wollte ich. So was von.

Heidi Klum bei Dreharbeiten von „Germany’s Next Topmodel“.

Heidi Klum bei Dreharbeiten von „Germany’s Next Topmodel“.

Zur Frau gemacht werden

„Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Das schrieb Simone de Beauvoir schon 1949 und sie meinte damit, dass eine Frau erst durch die gesellschaftliche Prägung, durch das männliche Machtverhältnis in ihrem Leben, zu dem gemacht wird, was allgemein als weiblich angesehen wird.

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Meine Tochter ruckelt sich auf meinem Bauch wieder zurecht in eine bequeme Position. Beim Schlafen klappt der Mund auf. Sie sabbert. Ihr Körper ist noch in direkter Linie Ausdruck ihrer Bedürfnisse. Sie kennt noch keine Heidi Klum und hat noch kein Konzept von Schönheitswahn. Sie rollt sich wie eine Kugel zusammen, damit sie auf dem Arm noch den Negativraum unter meinem Kinn füllen kann, sie drückt den Rücken nach hinten durch, drückt sich mit aller Macht von mir weg, wenn ihr etwas wehtut. Sie reckt den Kopf nach vorne, guckt ein wenig schief, wenn sie gefüttert werden will. Ihr Körper weiß noch nichts von den Erwartungen, die die Gesellschaft an sie stellen wird. Ihr Körper ist Neugierde, wenn sie die Arme streckt, um sich hochzuziehen, um an den Händen grotesk große und dafür wackelige Schritte zu tun.

Prägung von Geburt an

Unsere Gesellschaft bewertet Babys unterschiedlich, je nachdem, welches Geschlecht sie haben. Sie schreibt bei demselben Foto einem Säugling die Adjektive hübsch, zart, klein und süß zu, wenn sie denkt, dass es ein Mädchen ist, und auf der anderen Seite stark, robust und glücklich, wenn sie glaubt, einen Jungen zu sehen. Baby‑X-Experimente nennen sich solche Studien aus der Psychologie, die seit den 1970ern in verschiedenen Settings immer wieder durchgeführt werden. Melanie Kubandt forscht und lehrt seit vielen Jahren zur Bedeutung von Geschlechter­stereotypen und ‑konstruktionen in der frühen Kindheit, aktuell bei der Universität Osnabrück. Mit ihr spreche ich einen Tag später darüber, wie uns Erwartungen an Geschlechterrollen prägen.

„Wir schreiben schon ganz früh, im Prinzip ab dem Tag der Geburt, bestimmten Geschlechtern bestimmte Eigenschaften zu. Das passiert ganz unbewusst. Wir loben Mädchen mehr für Äußerlichkeiten und Jungen eher für Leistungen. Das passiert selbst mir als informierte Geschlechterforscherin“, erklärt sie. So würden Mädchen lernen, dass sie Anerkennung bekommen, wenn sie schön sind und schöne Kleidung anhaben. Sie grenzten dadurch automatisch ihren Handlungsspielraum ein – und würden sogar weniger ausprobieren, sich weniger dreckig machen, um nicht die schöne Kleidung zu ruinieren.

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Scheitern im Kleinen

Bei all den Absichten, meine beiden Kinder, Junge und Mädchen, halbwegs gleich zu behandeln, scheitere ich dann aber doch im Kleinen. Wenn ich ehrlich bin, sage ich zu meiner Tochter öfter „niedlich“, als ich es im selben Alter zu meinem Sohn gesagt habe. „Wir erleben heute eine Differenz zwischen Reden und Tun. Weil wir um den Kampf um Gleichberechtigung wissen, sind wir überzeugt, dass wir auch anders handeln. Aber wenn wir genauer hingucken, bemerken wir, dass wir immer noch in dieselbe Fallen tappen“, bestätigt mir Genderforscherin Kubandt.

Und was hat das nun mit einer Realitymodelshow zu tun? „Gleichberechtigung bedeutet heute nicht, dass Frauen vom Schönheitswahn entbunden werden, sondern, dass nun alle alles können müssen. Männer müssen ebenfalls schön sein, Frauen ebenso erfolgreich wie Männer. Frauen erleben in dieser Gesellschaft, dass sie zwar feministisch sein können, aber dazu eben auch jugendlich und schön. Heidi Klum ist da das perfekte Beispiel: Sie ist heterosexuell, attraktiv, jugendlich. Gleichzeitig ist sie aber so erfolgreich wie ein Mann. Und bedient mit ihrer Show weiterhin den männlichen Blick auf Frauen.“

Von der Gesellschaft will ich grundsätzlich immer noch geliebt werden, will erfolgreich wie schön sein – und diesen Wunsch nach Anerkennung bedient Heidi Klum mit ihrer Show grundlegend.

Laufen auf High Heels: Bei „Germany’s Next Topmodel“ ein Muss. Auch wenn es wehtut.

Laufen auf High Heels: Bei „Germany’s Next Topmodel“ ein Muss. Auch wenn es wehtut.

Neues Verhältnis zum Körper

In den letzten paar Jahren hat sich mein Körper verändert. Aber auch mein Verhältnis dazu. Er hat zwei Menschen produziert und herausgepresst. Er hat zwei Menschen über mehrere Monate komplett ernährt. Das Gewebe ist weicher. Im Klartext: Das meiste hängt. Und dennoch bin ich nicht unsicherer. Es braucht keine Schwangerschaften, um zu erkennen, was ein Körper alles leisten kann, ganz ohne irgendwie schön sein zu müssen. Wie er mich trägt. Vielleicht liegt diese neue Wahrnehmung, die mehr mit dem Tun als mit dem Aussehen zu tun hat, auch am Alter. Ein Kollege sagte mir, dass er mit Ende 20 die Schönheit des Charakters lieben gelernt hat.

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Oder es liegt an neuen Vorbildern. Denn in den letzten Jahren hat sich das Sprechen und Zeigen weiblicher Körper ebenfalls verändert. Hashtag Bodypositivity. Etwa zehn Jahre nach dem Start von GNTM fingen Frauen in den sozialen Medien an, ihre Körper zu zeigen, in allen Formen. Einzelne Modefirmen warben mit den runden Frauen. Und das ist selbst bei der Heidi Klum aus Los Angeles angekommen. Sie hat die Definition von Schönheit erweitert, mein Körper passt da inzwischen mehr rein, doch Schönheit muss immer noch bedient werden. Leistung, Selbstoptimierung, Konkurrenz stehen immer noch ganz oben. „Die neue Diversität bei „Germany’s Next Topmodel“ ist eine Mogelpackung, weil es noch immer um Bewertung und Abwertung geht“, sagt auch Melanie Kubandt.

Von wegen „Mom“-fit

Ich bin über 30 Jahre, und die Idee, dass man seinen Platz in der Welt nur behaupten kann, dass man von der Gesellschaft nur geliebt werden kann, wenn man dünn ist, hat sich als vollkommener Bullshit herausgestellt. Aber trotzdem, als ich letztens eine „Mom fit“-Jeans in meiner gewohnten Größe kaufen wollte, passte die ein paar Monate nach der Geburt nicht über den „Mom“-Bauch. Ich bin wieder aus dem Laden gegangen. Meine Hüfte schwang dabei nicht locker mit.

Heute ist wieder Donnerstag. Abends kürt Heidi Klum die Gewinnerin der 18. Staffel. Ich werde mich wieder gemütlich in mein rotes Sofa fläzen, doch mein Laptop bleibt zu in der Hoffnung, dass ich endlich dieses Buch lese, das so lange schon auf dem Wohnzimmertisch auf mich wartet. Doch die Teilnehmerinnen, die unterwerfen sich erneut den Regeln der Klum-Show, der Aburteilung und der grenzenlosen Selbstausbeutung. Manche der Frauen waren bei der ersten Staffel gerade mal aus den Windeln heraus. Sie kennen Heidi Klum ihr ganzes Leben lang.

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