Miezen unter Hausarrest: Warum in Walldorf Katzen im Lockdown sind
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In Walldorf haben Katzen monatelang Ausgangssperre, um die vom Aussterben bedrohte Haubenlerche zu schützen (Fotomontage).
© Quelle: imago/Bihlmayerfotografie/blickwinkel/RND Montage Behrens
Tür auf, Katze raus. So einfach könnte es sein, so einfach ist es für viele Katzenhalterinnen und Katzenhalter. Während Hunde täglich an der Leine spazieren geführt werden, können Freigängerkatzen ihren Bewegungsdrang allein befriedigen. Zumindest nahezu überall in Deutschland – denn eine Ausnahme gibt es. In Walldorf zwischen Heidelberg und Karlsruhe haben Katzen ab dem 1. April Hausarrest – falls sie nicht an der Leine geführt oder mit GPS-Tracker ausgestattet werden.
Tierschutz gegen Artenschutz – das ist das Dilemma in Walldorf, das als Hauptsitz des Software-Giganten SAP bekannt ist. Auf der einen Seite die hochgradig gefährdeten Haubenlerchen, auf der anderen Seite der natürliche Bewegungsdrang von Hauskatzen, die als Freigänger unterwegs sind. Die Lösung der Naturschutzbehörde des Rhein-Neckar-Kreises ist umstritten und einmalig in Deutschland: Katzen in einem bestimmten Radius um das Brutgebiet herum dürfen während der fünf Monate Brutzeit das Haus nicht unkontrolliert verlassen.
Tierschutzbund: „Katzen müssen das Versagen des Menschen ausbaden“
„Nachdem der heimischen Haubenlerchenpopulation so lange Lebensraum und Nahrung genommen wurde, bis in Walldorf gerade mal zwei Brutpaare übrig blieben, müssen nun Katzen das Versagen des Menschen ausbaden“, sagt Thomas Schröder, Präsident des Deutschen Tierschutzbundes. Der Verband kämpft zusammen mit dem örtlichen Tierschutzverein gegen die Allgemeinverfügung. „Wer Katzenschutz missachtet, der ist kein Tierschützer, ich behaupte, nicht einmal Artenschützer“, sagte Schröder.
Haubenlerchen sind kleine, maximal 45 Gramm schwere Vögel, die in Europa, Afrika und Asien leben. In Westeuropa gilt ihr Status als hochgradig gefährdet, in Baden-Württemberg wie in ganz Deutschland gelten die Vögel als vom Aussterben bedroht. In Deutschland wurden 2009 3700 bis 6000 Brutpaare vermutet, bis zu 95 Prozent davon in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. In Baden-Württemberg wurden 2022 74 Brutpaare vermutet. Haubenlerchen brüten zwei- bis dreimal zwischen Frühjahr und Herbst.
Haubenlerche: in Deutschland vom Aussterben bedroht
Doch sind es wirklich die Katzen, die dafür sorgen, dass die Haubenlerchen in Walldorf aussterben? Deutschlandweit gibt es 14 Millionen Katzen, und diejenigen, die frei laufen dürfen, töten nach Schätzungen des Naturschutzbundes (Nabu) 200 Millionen Vögel jährlich. Das Problem: Studien sind nicht von einem Ort auf den anderen übertragbar, die Voraussetzungen verschieden. So sieht es auch der Nabu: „Entscheidender Faktor für die Stabilität der Vogelpopulationen ist nicht die Zahl ihrer Feinde, sondern die Lebensraumqualität.“ Sprich: Gibt es genug Futter, Nist- und Versteckmöglichkeiten, haben Katzen auf Streifzug kaum Auswirkungen auf das Ökosystem.
Kritikerinnen und Kritiker sehen auch in Walldorf ein menschgemachtes Problem. 2013 erschloss die Stadt ein neues Baugebiet zwischen dem Stadtkern und der SAP-Siedlung – damals unter der Annahme, die dort brütenden Haubenlerchen umsiedeln zu können. Doch Ersatzreservate wurden nicht wie gehofft angenommen. Waren vor Baubeginn 2016 sechs Brutpaare in Walldorf zu finden, waren es 2021 nur noch zwei.
Kritiker sehen Ausspielen von Artenschutz gegen Tierschutz
Für die Tierschützer macht es sich der Kreis zu einfach, Katzen in die Verantwortung zu nehmen. Für einen starken Rückgang von einzelnen Arten seien in der Regel nicht andere Tiere verantwortlich, sondern vor allem der Verlust von Lebensraum durch Versiegelung, Bebauung und Landwirtschaft. „Wer die komplexe Thematik auf einen simplen ‚Vogel gegen Katze‘- oder ‚Arten- gegen Tierschutz‘-Konflikt herunterbricht, duckt sich vor der Verantwortung, die wir Menschen für alle Tiere tragen“, so Schröder.
Der Vorstand des lokalen Tierschutzvereins, Volker Stutz, schreibt in seinem Tierschutzmagazin, dass „für den Bestandsrückgang“ der „Mensch, nicht die Katze“ sorge. „Auf dem Rücken der schutzlosen Tiere wird versucht, ein bisschen Natur zu retten, Arten werden gegeneinander ausgespielt.“ Eine Sprecherin des Tierschutzbundes sagte dem RND: „Natürlich muss die Haubenlerche geschützt werden. Aber so wird das eigentliche Problem nicht gelöst.“ Das Ökosystem sei zu komplex, jeder Eingriff habe Konsequenzen, „das ist nicht wie ein Auto, wo ich einfach eine Schraube oder ein Teil austauschen kann, wenn was kaputt ist“.
Katzen im Fokus des Vogelsterbens – doch belastbare Zahlen gibt es nicht
Der Rhein-Neckar-Kreis sieht das indes anders. „Von Ausspielen kann keine Rede sein. Die jeweiligen Belange wurden geprüft und gegeneinander abgewogen“, sagt der Referatsleiter der Unteren Naturschutzbehörde des Kreises, Jörg Bayer, dem RND.
Doch Feinde hat die Haubenlerche mehrere. Nebst Menschen und Katzen gehören auch Marder, Rabenkrähen, Füchse und Elstern dazu. Letztere beiden Arten stehen nach Angaben des Rhein-Neckar-Kreises ebenfalls im Fokus. So werden Lebendfallen aufgestellt und Füchse und Elstern geschossen, um Jungtiere der Haubenlerche zu schützen.
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Welches Tier wie viele Haubenlerchen verletzt oder tötet und wie die Bauarbeiten sich auf die Population ausgewirkt haben, sei unklar, gibt auch der Kreis auf Nachfrage zu. „Entsprechende Zahlen gibt es nicht“, sagt Bayer. Allerdings habe man von Dezember 2021 bis Mitte Februar 2022 Wildkameras aufgestellt. Von denen seien drei Füchse, sechs Steinmarder und 28 Katzen gesichtet worden.
Fachbüro sammelt unrechtmäßig Daten von Katzenhaltern
Das Regierungspräsidium Karlsruhe sowie der Rhein-Neckar-Kreis argumentieren, dass es in Walldorf eine überdurchschnittlich hohe Dichte an Hauskatzen gebe. Doch „konkrete Zahlen gibt es nicht“, so Bayer zum RND. Es handele sich um „Beobachtungen des Fachbüros“, das wiederum regelmäßig vor Ort gewesen sei. In der Allgemeinverfügung wird als Quelle zudem eine 1997 erstellte Studie genannt, die Bewegungsmuster von zehn am Rande eines Vororts lebende Katzen neun Monate analysierte.
Besagtes Fachbüro nahm vor einigen Jahren seine Arbeit auf und erarbeitete Schritte, um die Haubenlerche zu schützen. Dabei sammelte das Büro auch Daten über Katzen und deren Halterinnen und Halter. Inzwischen wurde gerichtlich geklärt, dass das Sammeln und auch die Weitergabe der Daten an die Untere Naturschutzbehörde unrechtmäßig war. Für den Deutschen Tierschutzbund ist daher klar: „Belastbare Daten“, die die „tierquälerischen Einschränkungen“ rechtfertigten, gebe es nicht.
Bis zu 50.000 Euro Strafe für Freigängerkatzen
Der Rhein-Neckar-Kreis sieht sich durch den den bisherigen Erfolg legitimiert – immerhin seien im vergangenen Sommer acht statt zuletzt maximal drei Haubenlerchen flügge geworden und hätten anders als in den Vorjahren zumeist auch die kritische Phase überlebt. Belastbare Daten fehlen bisher aber auch hier. „Der Schutz der Jungvögel kann erst als erfolgreich angesehen werden, wenn sich auf dieser Basis in den kommenden Jahren mehr Brutpaare bilden als bisher“, sagt Landrat Stefan Dallinger.
Er glaubt allerdings, dass durch die Allgemeinverfügung „die Gefahren für die Haubenlerchen signifikant reduziert“ worden seien. Im vergangenen Jahr war das Brutrevier zwar nicht zu 100 Prozent katzenfrei, allerdings wurde auch nur eine Katze erwischt, die gegen die Ausgangssperre verstoßen hat: 500 Euro kostete das den Halter. Hätte das Tier eine Haubenlerche verletzt oder getötet, wäre eine Summe von 50.000 Euro fällig geworden.
Ausnahme vom Hausarrest: nur zwei Katzen mit GPS-Tracker
Doch was bedeutet das nun für die Katzen und ihre Halterinnen und Halter? In der Allgemeinverfügung wird auf die Risiken hingewiesen. Katzen könnten aggressiv werden, Möbel zerstören oder depressiv werden, wenn sie ihrem gewohnten Bewegungsdrang nicht folgen könnten. Der Kreis macht deshalb, nach Absprache mit dem Veterinäramt, Vorschläge. So können Balkon oder Garten katzensicher eingezäunt werden oder die Katze darf an einer maximal zwei Meter langen Leine ausgeführt werden. Das Regierungspräsidium rät, den Tieren während der Zeit mehr Aufmerksamkeit durch Spielen zu geben und die Wohnung katzengerecht umzugestalten.
Ebenso kann eine Befreiung vom Hausarrest beantragt werden, wenn Katzenhalterinnen und Katzenhalter per GPS-Daten nachweisen, dass ihre Katzen sich zwischen September und März nicht regelmäßig im Brutgebiet der Haubenlerchen aufgehalten haben. Dann sind die Tierbesitzerinnen und Tierbesitzer aufgefordert, via GPS-Montoring die gesamte Zeit während der Ausgangssperre ihre Tiere zu überwachen und sie einzufangen, sollten sie sich dem Brutbereich nicht nur zufällig nähern. Laut dem Kreis liegen für dieses Jahr zwei Anträge auf Befreiung vor.
Gericht soll Rechtmäßigkeit der Ausgangssperre für Katzen klären
Dem Tierschutzbund und auch dem örtlichen Tierschutzverein reicht das nicht. Das Ausführen an der Leine sei „keine zumutbare Option“, sagt Schröder. Besonders ein Vorschlag mutet perfide an: Die Katzen könnten über die Monate der Ausgangssperre in Tierpensionen gegeben werden, die außerhalb der Sperrzone liegen, wird in der Allgemeinverfügung geraten. „Wir müssen diskutieren, wie mitfühlend wir mit fühlenden Individuen wie Katzen umgehen“, sagt eine Sprecherin des Deutschen Tierschutzbundes.
Während sich Regierungspräsidium und Kreis sicher sind, dass die Verfügung rechtmäßig ist, kommt ein Gutachten von Deutschem Tierschutzbund, Deutscher Juristischen Gesellschaft für Tierschutzrecht und dem Landestierschutzverband Baden-Württemberg zu einem anderen Schluss. „Insgesamt lässt die Allgemeinverfügung die Darlegung einer ordnungsgemäßen Prüfung der tatsächlichen Gefahr für die Haubenlerchen durch die Freigängerkatzen und daher auch eine substantiierte Begründung vermissen“, heißt es dort. Die Behörde sei „zu einer methodengerechten fachwissenschaftlichen Prüfung verpflichtet“, komme dem aber nicht nach. Daher sei die Ausgangssperre „aufgrund formeller und materieller Mängel rechtswidrig“.
Auch weil man befürchtet, dass die Allgemeinverfügung Schule machen könnte und Katzen deutschlandweit zu Hausarrest gezwungen werden könnten, schlagen die Organisationen Alarm. Doch selbst gegen die Allgemeinverfügung klagen können sie nicht – das gibt die deutsche Gerichtsbarkeit nicht her. Nun ruhen die Hoffnungen auf einer Person, deren Hauskatze künftig eingesperrt werden muss. Sie hat Klage eingereicht. Die Entscheidung obliegt dem Verwaltungsgericht. Wann mit einem Gerichtsurteil zu rechnen ist, ist noch unbekannt.