Geflüchtetenschicksal als Film

Flucht und Sieg: Sally El Hosainis Syrien-Drama „Die Schwimmerinnen“ bei Netflix

Unterwegs nach Berlin: Die aus Damaskus Geflüchteten sind nach einer lebensbedrohlichen Überfahrt in einem uralten Schlauchboot in Griechenland angekommen (v. l.: Nathalie Issa als Yusra Mardini, Manal Issa als Sara Mardini und Ahmed Malek als Nizar im Film „Die Schwimmerinnen“).

Unterwegs nach Berlin: Die aus Damaskus Geflüchteten sind nach einer lebensbedrohlichen Überfahrt in einem uralten Schlauchboot in Griechenland angekommen (v. l.: Nathalie Issa als Yusra Mardini, Manal Issa als Sara Mardini und Ahmed Malek als Nizar im Film „Die Schwimmerinnen“).

Es ist unwirklich, wie in einem Science-Fiction-Szenario. Die beiden Schwestern tanzen ausgelassen auf der Terrasse eines Klubs, während im Hintergrund Raketen auf die Stadt stürzen, Feuer aufflammen, Rauchsäulen aufsteigen. Endzeit. Apokalypse jetzt! „Es gibt kein Land mehr“, sagt Sara, die Ältere. „Syrien ist futsch.“

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Als Nächstes erscheint auf dem Handy eine Nachricht, dass eine Freundin beim Bombardement ums Leben gekommen ist. Damaskus 2015. Der Heimweg in den blauen Stunden des Morgens ist dann ein Spießrutenlaufen durch Reihen aggressiver Soldaten, die nichts übrig haben für leichtes Leben inmitten all des Sterbens. Es gibt die Möglichkeit, zu fliehen, nach Deutschland. Weil Yusra noch 17 ist, minderjährig, hätte sie sogar das Recht, ihre Familie von Berlin aus nachzuholen.

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Nur widerwillig erlauben die Eltern die gefährliche Reise und nur, weil der junge Nizar (Ahmed Malek) seine Cousinen (gespielt von den Schwestern Nathalie und Manal Issa) begleitet. 2011, zu Beginn der „syrischen Revolution“ gegen den Diktator Baschar al-Assad, wollte Vater Ezzad Mardini (Ali Suliman) noch Weltklasseschwimmerinnen aus seinen Töchtern machen, Olympionikinnen, die seine eigene wegen des Militärdiensts verpasste Chance auf den großen internationalen Auftritt stellvertretend wahr werden lassen sollten. Vor allem auf Yusra, die die 100 Meter Schmetterling in einer Minute neun zurücklegt, ruhen noch immer die Hoffnungen des passionierten Trainers. Der Aufbruch ist für Ezzad das Ende all dieser Träume.

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Die walisisch-ägyptische Regisseurin Sally El Hosaini lenkt in der amerikanisch-britischen Produktion „Die Schwimmerinnen“, ihrem zweiten abendfüllenden Film nach „My Brother The Devil“ (2012), die Aufmerksamkeit des Betrachters auf einen Krieg, der vor nicht allzu langer Zeit bei uns die täglichen Schlagzeilen beherrschte, sich aber nach der Pandemie, gefolgt von dem Angriff Putins auf die Ukraine, in die kleinen Meldungen zurückzog.

Russlands Kriegsführung dient immer auch der Destabilisierung Europas

Dabei war Syrien für den Diktator Putin auch der ultrabrutal ausgeführte erste Versuch einer Destabilisierung Europas durch Flüchtlingswellen. El-Hosaini vermerkt nicht von ungefähr in einer Szene den Kriegseintritt der Russen, die ersten mörderischen Bombardements der Flugzeuge Moskaus auf syrische Städte. Als Putin die Uneinigkeit der Europäer über die Geflüchteten, das Umschlagen von Empathie in Abneigung speziell in Deutschland, mitbekam, schien er Syrien umso gnadenloser von seinen Fliegern zerbomben zu lassen – wohl auch, um weitere Flüchtlingswellen loszutreten. Ähnlich doppelbödig in den Zerstörungsabsichten ist derzeit sein Angriffskrieg gegen die Ukraine.

El Hosaini, die gemeinsam mit Jack Thorne („His Dark Materials“, „Enola Holmes 1 & 2″) das Drehbuch schrieb, führt in der Verfilmung von Yusra Mardinis autobiografischem Buch „Butterfly“ (in Deutschland erschienen bei Knaur) allen Zuschauern, denen „die Syrer“ bisher fremd geblieben sind, auf beschämende Weise vor Augen, was diese Menschen erleiden mussten, wie sie aus ihrem Leben gerissen wurden, zudem wie ähnlich sie in ihren Hoffnungen und Enttäuschungen, ihrem Glück und Hadern doch uns sind.

El Hosaini zeigt die Schicksale hinter den Flüchtlingszahlen

Und zugleich wie unähnlich den Europäern, die zuvörderst auf die Wahrung ihres Wohlstands pochen. Die griechischen Gasthausbesitzer verschließen ihre Türen vor den Gestrandeten, der deutsche Beamte will nichts von Schicksal und Entbehrung wissen, sondern nur Ruhe und Feierabend haben und keinesfalls eine Ausnahme machen, die eine bürokratische Regel bestätigen würde. Szenenweise stellt sich El Hosaini in eine Reihe mit dem griechischen Dichter Nikos Kazantzakis, der in seinem Roman „Griechische Passion“ die Kapitulation der Nächstenliebe vor der Eigenliebe beschrieb. Weit drastischer schrieb der Kreter freilich, als El Hosaini inszeniert – und ohne den persönlichen Triumph des Friedens der Heldin am Ende.

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El Hosaini erzählt ihr Drama nach zwei Dritteln – als die Mardini-Mädchen in Berlin angekommen sind und auf den Schwimmtrainer Sven treffen – standardmäßig in hollywoodesken Bahnen zu Ende: Wie Yusra alles tat, um in das Refugee-Team der Olympischen Spiele von Rio de Janeiro zu kommen. Wie der zunächst skeptische Berliner Schwimmtrainer Sven – der vor allem durch Komödien bekannte Matthias Schweighöfer dürfte dem Film ein Mainstreampublikum bescheren, das er sonst wohl eher nicht bekäme – ihr dabei hilft. Wie sie sich mit Schwester Sara zankt und versöhnt.

Zu einer Medaille reicht es am Ende nicht für Yusra, aber zu einem gewonnenen Vorlauf. Dabeisein ist eben alles. In einem klassischen Hollywoodfilm hätte die vom Vater aschenputtelmäßig behandelte Sara – dieser Konflikt wird nicht ausreichend inszeniert – aufs Siegertreppchen kommen müssen. Aber hey, man sollte heute kein Filmmärchen mehr erzählen zu Ungunsten der Wahrheit.

Sally El Hosainis Film hat Bilder, die man nicht mehr vergisst

Die ersten zwei Drittel des Films, der im September das 47. Toronto International Film Festival eröffnete, sind atemberaubend, enthalten Bilder, die man nicht wieder vergisst. Kameramann Christopher Ross, der schon die Beatles-Komödie „Yesterday“ bebilderte, aber auch das Kostümfiasko „Cats“ (beide 2019), zeigt drastisch den Angriff auf zivile Ziele, auf eine Schwimmhalle in Damaskus. Die Szene, in der Yusra als letzte Schwimmerin im Becken schwebt, während vor ihr eine Granate wie ein böser Fisch in Zeitlupe dem tödlichen Bodenkontakt entgegensinkt, ist ein Herzstopper. Und als die Geflüchteten griechischen Boden erreichen, stolpern sie auf eine Müllhalde des Überlebens, auf der Tausende und Abertausende gelber und orangener Rettungswesten abgelegt wurden. Ein gewaltiges Bild.

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Die Überfahrt der vielen in einem winzigen, geflickten Schlauchboot ist kaum zu ertragen, gibt dem Betrachter eine gute Vorstellung von den Verbrechen gewissenloser Schlepper gegen die, die alles verloren haben, und von den Schicksalen, die zu Zahlen in Zeitungsmeldungen schrumpfen, aber alle Tage verzweifelt, einsam, ohne Wahrung der Würde auf dem Friedhof Mittelmeer sterben. Ein europäisches Schandmal.

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Im Osten nichts Gutes – Cholera und Assads Streubomben

Anfang November hatte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron der „Ocean Viking“ mit 234 Migranten (50 Minderjährigen) an Bord – gegen heftigsten innerpolitischen Widerstand – endlich das Einlaufen in den Hafen von Toulon erlaubt. Nachdem das Rettungsschiff Wochen auf See hatte ausharren müssen und nicht klar war, wie lange Italiens Rechtsregierung dem Rettungsschiff noch ein Festmachen verbieten würde.

Und Syrien? Im syrischen Bürgerkrieg beschossen zuletzt Truppen von Diktator Baschad al-Assad in Idlib ein Flüchtlingscamp mit Raketen – aufgrund der Wunden der Toten und Verletzten wurde Streumunition vermutet. Im Oktober hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Ausbruch der Cholera gemeldet. Im Osten nichts Gutes.

„Die Schwimmerinnen“, Film, 135 Minuten, Regie: Sally El Hosaini, mit Nathalie Issa, Mal Issa, Ahmed Malek, Matthias Schweighöfer (ab 23. November bei Netflix)

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