Böhmermann attackiert Lanz: Wie groß ist die Gefahr der False Balance?
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Streit um „False Balance“: ZDF-Moderator Markus Lanz (l.) und sein Kollege Jan Böhmermann, Entertainer und Satiriker, sprechen bei der Veranstaltung „Das Triell: Jan Böhmermann, Markus Lanz und Giovanni di Lorenzo“ in Hamburg über „Macht und Ohnmacht des politischen Journalismus“.
© Quelle: Georg Wendt/dpa
Es sei „nicht schön, dass ein unseriöser Comedyclown wie ich mit einer größeren Reichweite als die ‚Bild‘-Zeitung in der Tasche herumläuft und schreiben kann, was er möchte“, hat Jan Böhmermann in einem Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) gesagt. Nicht wenige würden dem Satz gewiss zustimmen – all jene nämlich, die den ZDF-Moderator seit Jahren als unerträglichen Moralisten bepöbeln. Böhmermann! Dieser öffentlich-rechtliche Gutmensch! Dieser klugscheißende Niedermacher mit dem lockeren Blockdaumen bei Twitter. Möge der Mann bitte schweigen.
Doch er schweigt nicht. Und das ist gut so. Im Prinzip. Denn die Trefferquote seiner Attacken ist hoch. Getroffene Hunde jaulen. Böhmermann zerlegt beherzt, was ihm missfällt. Mit den präzise-druckvollen Themenspecials in seiner gerade aus der Sommerpause zurückgekehrten Sendung „ZDF Magazin Royale“ – sauber recherchiert und liebevoll zugespitzt von einem Team rund um die österreichische Journalistin Hanna Herbst – hat der Satiriker seine Wirkungskraft erweitert: Böhmermann ist längst kein Comedyclown mehr. Böhmermann ist Gesellschaftskritiker. In ihm steckt mehr Ulrich Wickert, als ihm lieb sein dürfte.
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„Hallenser Mikrobiologe, der nichts publiziert hat“: Der Wissenschaftler Alexander Kekulé im Dezember 2020 in der ZDF-Sendung "Markus Lanz".
© Quelle: ZDF
Aber wo Böhmermann draufsteht, ist eben Zoff drin. Nun also hat er sich mit dem ZDF-Kollegen Markus Lanz einen „schweren Schlagabtausch“ („Welt“) geliefert: Er warf ihm vor, in der Corona-Krise auch umstrittenen Virologen wie Alexander Kekulé oder Hendrik Streeck sowie deren randständigen Positionen in seiner Talkshow eine Bühne geboten zu haben. Männern also, deren Meinung „durchtränkt von Menschenfeindlichkeit“ sei. Kekulé bezeichnete Böhmermann als „Hallenser Mikrobiologe, der nichts publiziert hat“. Im Journalismus, zürnte er weiter, bestehe immer das Risiko, „für den Effekt“ zu arbeiten. Dann drohe „False Balance“ – also die gleichberechtigte Widergabe von wissenschaftlichen Mindermeinungen zum Zwecke vermeintlicher Neutralität. In Wahrheit gehe es aber nicht um Ausgewogenheit, sondern darum, dass „es kracht“.
Die Bubble der Corona-Skeptiker ist empört
Lanz wies den Vorwurf zurück – und warf Böhmermann seinerseits vor, wenig zimperlich zu sein, wenn es darum gehe, Zündstoff zu erzeugen. Und natürlich empörte sich die Bubble der Corona-Skeptiker und Rundfunkbeitragsgegner mit erwartbarer Vehemenz über die frechen „Zensurforderungen“ des „linksgrün versifften“ ZDF-Mannes. Böhmermann wieder! Der hoch bezahlte Staatspropagandist will unliebsame Forscher mundtot machen! „Wir sind gezwungen, für diesen Quatsch zu bezahlen!“, tobte auch „Bild“-Chef Julian Reichelt, immer eifrig auf der Suche nach billigem Applaus, zur Not auch von wutbürgernden Fensterrentnern. Böhmermann „schockiere mit einer Verbotsforderung“, donnerte „Bild“. Halb Facebook schrie sich wund: „Skandal! Zensur!“.
Mal ganz langsam. Massenmedien leben von Emotionen. Zorn ist eine starke Emotion. „Fakt ist, Fakten bewegen nicht“, schreibt das Magazin „enorm“. Der Umweltjournalist Dirk Steffens sagt dort: „Man braucht Emotionen, um Handlungsimpulse zu erzeugen. Im Journalismus dürfen wir emotionalisieren – vorsichtig und verantwortungsvoll.“
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"Durchtränkt von Menschenfeindlichkeit“: ZDF-Moderator Markus Lanz (l.) erwehrt sich bei einer Veranstaltung der "Zeit" in Hamburg der Angriffe seines Kollegen Jan Böhmermann.
© Quelle: Georg Wendt/dpa
Ein konfrontativer Talk bleibt also eher haften als ein harmonisches Allerlei voller Nichtigkeiten. Emotionen sind der Treibstoff für Hunderte „alternativer Medien“ ebenso wie für ARD, ZDF, RTL oder Pro7. Diesen Gesetzmäßigkeiten unterliegen auch Lanz‘ Talk und Böhmermanns Sendung selbst. Tatsächlich aber ist – hier irrt Böhmermann keineswegs – „False Balance“ dabei eine ganz reale Gefahr. Hinter der Formel verbirgt sich eine Realitätsverzerrung durch falsche Ausgewogenheit. „Gibt es ein Risiko, das wir als Unterhalter manchmal nicht sehen?“, fragte Böhmermann, der seine Kritik nicht als Angriff auf Lanz verstanden wissen wollte. Die Antwort auf die Frage kann nur lauten: Ja, dieses Risiko existiert.
„Waldspaziergang mit Attila Hildmann“
In demokratischen Gesellschaften gären und brodeln seit Jahren Unsicherheiten, Ängste, Drohszenarien. Minderheitenmeinungen werden extremer und greller, der Mainstream wird schmaler. In Zeiten aufbrechender Gewissheiten galt es lange als journalistischer Königsweg, möglichst alle Positionen abzubilden - in wieder sehr beliebten „Pro und Kontra“-Formaten, in Gastessays oder eben Talkshoweinladungen für Vertreter exotischer Einzelpositionen. Das Ziel: Bloß nicht den „Zensur!“-Schreihälsen Anlass zur Erregung geben. Unvergessen ist die „Spiegel“-Geschichte „Waldspaziergang mit Attila Hildmann“, die dem nach rechtsaußen abgedrifteten Vegankoch und Telegram-Titanen üppigen Raum zu werblicher Selbstentfaltung bot („Seit 75 Jahren hat sich in Deutschland keiner so aus dem Fenster gelehnt wie ich“).
Journalisten lernen in der Ausbildung, dass jede Geschichte mehrere Seiten hat. Diese Grundregel stößt in der Welt der Wissenschaft aber an Grenzen. Es ist genau das, was Böhmermann in der „Zeit“-Talkshow mit markigen Worten kritisierte - nicht zum ersten Mal. „Nicht alle Dinge haben zwei Seiten, man kann nicht allem etwas vermeintlich Adäquates entgegensetzen, nur weil man in der Journalistenschule was falsch verstanden hat“, sagte er dem RND. „Zur Realität des Klimawandels kann es keine zwei Meinungen geben. Zumindest nicht, wenn man alle Latten am Zaun hat.“
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In der Sache hat Böhmermann Recht. In der Wissenschaft gibt es keine Meinungen, die gleichwertig wären mit evidenzbasierten Erkenntnissen. Wer das behauptet, ignoriert 300 Jahre Aufklärung. Wenn eine überwältigende Mehrheit von Wissenschaftler denselben Kenntnisstand teilt, gilt dieser als gesicherter Sachstand. Mit einer reinen, noch so provokanten „Position“ ohne anerkannten Beweis lässt sich dieser Sachstand nicht valide herausfordern. Wenn Medien aber dennoch lieber einen schrillen Disput über unstrittige Fakten inszenieren, als sei die Forschung dazu erst ganz am Anfang, erwecken sie den falschen Anschein, die Teilung der Wissenschaftswelt verlaufe genau in der Mitte. Dabei liegt das Verhältnis eher bei 80 zu 20 Prozent. Oder gar bei 90 zu 10. Oder bei 95 zu 5.
Die Konsequenz daraus kann aber nicht sein, Fachpersonal wie Kekulé oder Streeck grundsätzlich in keine Talkshow einzuladen. Hier überreißt Böhmermann. Selbstverständlich kann man sie einladen. Man muss sie dann nur auffordern, ihre strittigen Punkte auch zu beweisen. Man muss sie konfrontieren mit der Tatsache, dass sie in der Kollegenschaft umstritten sind - und dass Gegenwind allein noch kein Nachweis für ein aufopferungsvolles Märtyrertum ist. Und die Frage ist, ob Lanz hier der richtige Adressat für Böhmermanns Zorn ist.
Überall lauern die Advokaten des Zweifels
Zur Wahrheit gehört, dass Lanz in der Tat umstrittene Wissenschaftler in seine Show einlud, sie dort aber in aller Regel einer durchaus strengen Prüfung unterzog und sie keineswegs unwidersprochen parlieren ließ. „Wir laden niemanden ein, damit es kracht. Wir setzen uns argumentativ auseinander“, sagte er in Hamburg. Es kommt bei den Gästen aber auf ein angemessenes Mischungsverhältnis an – und da ist Lanz kaum ein Vorwurf zu machen. Der indirekte Vorwurf von Böhmermann, Lanz bediene schon mit der Einladung von Kekulé oder Streeck Menschenfeindlichkeit, ist also überzogen und falsch. Die grundsätzliche Frage freilich, ob Redaktionen immer mal in die Ausgewogenheitsfalle zu tappen drohen, ist richtig.
Chris Mooney, preisgekrönter Journalist der „Washington Post“, warnte seine Journalistenkollegen schon vor Jahren eindringlich davor, sich vor den Karren interessierter Kräfte spannen zu lassen: Redaktionen müssten „besser verstehen“, wie der Ruf nach journalistischer Ausgewogenheit von denjenigen als Vehikel missbraucht werde, die mit Außenseitermeinungen oder längst widerlegten Thesen ins Licht der Öffentlichkeit drängten, schreibt er in seinem Buch „The Republican War on Science“. Journalistische Ausgewogenheit habe „keine Entsprechung in der Wissenschaft“. Dort würden Theorien und Thesen durch den Peer-Review-Prozess geprüft, bestätigt oder verworfen. Daher sollten Journalisten wissenschaftlichen Außenseiterthesen „mit ausgeprägter Skepsis“ begegnen. Denn überall lauern Advokaten des Zweifels, die ein Interesse daran haben, die Saat des Misstrauens zum Erblühen zu bringen. „Eine Bevölkerung, die nichts mehr glaubt, glaubt am Ende alles, und zwar demjenigen, der am lautesten brüllt“, sagt Claus Kleber, Moderator des „heute-journals“.
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„Eine Bevölkerung, die nichts mehr glaubt, glaubt am Ende alles, und zwar demjenigen, der am lautesten brüllt“: Claus Kleber, Moderator des „heute-journals“ im ZDF.
© Quelle: ZDF/Klaus Weddig/dpa
Wenn die „Bild“-Zeitung unfertige Studien von Christian Drosten heranzieht, um auf ihrem Feldzug gegen die Corona-Maßnahmen vermeintliche Irrtümer des Charité-Virologen zu entlarven, entlarvt sie dabei nur eines: ihre erschütternde Unkenntnis von den Gepflogenheiten der Wissenschaftswelt. Und das sind keine akademischen Wortklaubereien aus dem Elfenbeinturm. Denn der gefährliche Rigorismus des Boulevards hat am Ende reale Konsequenzen: Menschen begeben sich – unter Berufung auf diffuse Facebook-Funde, prominent platzierte Interviews oder dicke Schlagzeilen in rotweißen Boulevardblättern – in Gefahr. Studien haben gezeigt: „False Balance“ verzerrt tatsächlich die Wahrnehmung des wissenschaftlichen Kenntnisstandes durch das Publikum - und verändert auch das Verhalten. Prominent platzierter Unfug erhöht die Risikobereitschaft.
Den Fakten sind deine Gefühle egal
Leser und Zuschauer können glauben, dass wissenschaftlich unstrittige Fakten in der akademischen Welt immer noch diskutiert würden – oder gar, dass unliebsame Erkenntnisse aus politischen Gründen unterdrückt, verdrängt und verschwiegen werden. Dabei gilt der alte Satz: Den Fakten sind deine Gefühle egal. Die BBC entschuldigte sich einst für ein Interview mit dem Klimaskeptiker Nigel Lawson. Das war kein Nachweis einer toxischen „Cancel Culture“, sondern zeugte von publizistischem Verantwortungsbewusstsein.
Die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Journalismus stehen jedoch im Widerspruch zu den Prinzipien der Forscherwelt. Es sind zwei Blasen, zwei Maschinerien. Ihre Verzahnung ist komplex. Evidenzbasierte Fakten sind die einzige Währung der Wissenschaft. Nackte Objektivität im Journalismus dagegen ist ein unmöglich zu erreichendes Ideal. Fakten sind schon rein etymologisch etwas „Gemachtes“ (vom Lateinischen „facere“). Assoziationen fließen ein, Erfahrungen, Prägungen, Interessen, selektive Wahrnehmung, Projektionen. Der Kampf um die Wahrheit in den Massenmedien ist ein Kampf der Lautstärke.
„Die öffentliche Repräsentation von Meinungen muss nach Qualität erfolgen“
Im wissenschaftlichen Diskurs dagegen darf Lautstärke kein Faktor sein (das klappt nicht immer). Christian Drosten etwa hat sich nicht von sich aus mit professioneller Hilfe als Corona-Erfolgsforscher inszeniert, sondern wurde eher durch seine Dauerpräsenz gegen seinen Willen zum Gesicht der Corona-Krise. Legendär sein trockenes Bonmot zur quasi erpresserischen Aufforderung zu einer Stellungnahme durch die „Bild“-Zeitung: „Ich habe Besseres zu tun.“ Ihn treibt weniger der feste Glaube an die eigene Großartigkeit an als die Pflicht zur Aufklärung.
Natürlich müssen Medien auch unterschiedliche wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen. Sie müssen dabei jedoch unmissverständlich aufzeigen, was gängige Lehrmeinung und was Minderheitenposition ist. Und sie sollten auch den komplexen Erkenntnisprozess erläutern, über den im Publikum weitgehend Ahnungslosigkeit herrscht. Das Problem: Komplexität eignet sich kaum für eine knallige Pushmeldung. Die aufmerksamkeitsökonomischen Zwänge des Journalismus‘ sind regelrechte Komplexitätsverhinderer.
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Bei Twitter legte Böhmermann am Sonntag nach: „Meinungen im öffentlichen Raum sollten einer strengen, umfassenden medialen und gesellschaftlichen Qualitätskontrolle standhalten“, schrieb er. „Die öffentliche Repräsentation von Meinungen muss nach Qualität erfolgen.“ Wer wollte da widersprechen? Eine evidenzbasierte Position muss immer stärkere Berücksichtigung finden als eine diffuse Meinung. Dieser Verantwortung stellen sich seriöse Redaktionen jeden Tag.
Nicht jeder Unfug braucht die große TV-Bühne, bloß weil die vermeintliche Ausgewogenheit danach verlangt. Blödsinn bleibt Blödsinn – egal, welcher Prominente oder Nichtprominente ihn wann oder wo auch immer von sich gibt. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Bedauerlicherweise ist das nicht der Fall. Auch wenn Böhmermann im Fall Lanz überreißt, ist es legitim, dass er auf diese Gefahr hinweist. Oder wie der Autor und Humorist Shahak Shapira bei Twitter schrieb: „Never forget, dass das Land, in dem Böhmermann mit einem nordkoreanischen Diktatoren verglichen wird, weil er sagt, dass nicht jede bescheuerte Meinung ins Primetime-TV muss, das selbe Land ist, in dem Dokus mit Til Schweigers Meinung zu Kinderimpfungen gedreht werden.“