„Lieber Licht als Dunkelheit“: Die Nerven und ihr schwarzes Album
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Drei Jahre alte Lieder über unsere zum Zerreißen gespannte Gegenwart: Max Rieger (Gitarre und Gesang, von links), Kevin Kuhn (Schlagzeug) und Julian Knoth (Bass und Gesang) von der Band Die Nerven. Das nach der Band betitelte fünfte Album erscheint am 7. Oktober.
© Quelle: Lucia Berlanga/Glitterhouse/dpa
Unbehagen empfindet man nicht selten beim Hören dieses Albums. Etwa über die fiebrigen Hochgeschwindigkeitsmenschen in dem Song „15 Sekunden“. „Du hast 15 Sekunden“, heißt es da fordernd: „Biete mir was an / das ich nicht vergesse.“ Aber es gibt kaum noch Unvergessliches in der stroboskopisch taktenden, völlig überreizten Welt.
Unbehagen zieht auch herauf angesichts der Ratlosigkeit derer, die allen schon so lange übers Internet beibiegen, was sie lieben sollten: „Ein Influencer starrt an seine Decke / Nichts mehr zu erreichen, / nichts mehr zu entdecken / Das ist das Ende der Welt wie wir sie kennen.“ Wie fühlt sich Leere am Ende exzessiven Narzissmus an? Und welche Welt steht nach dem Ende der bekannten bevor?
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Gitarren schrammeln, schwirren und lärmen, schichten sich auf und verhallen auf dem fünften Album der 2010 im baden-württembergischen Esslingen gegründeten Band Die Nerven. Dringlichkeit liegt sowohl in der Musik als auch den Worten von Max Rieger (Gitarre/Gesang), Julian Knoth (Bass/Gesang) und Kevin Kuhn (Schlagzeug). Ein schwarzer Schäferhund ist auf dem Cover zu sehen.
Schwarze Hunde sind in den Mythen Europas oft Unheilsbringer, auch – siehe Winston Churchill – eine Metapher für Depressionen: „Ich kann sie spüren / die falsche Zeit / will lieber Licht als Dunkelheit“ heißt es denn auch in „Ich sterbe jeden Tag in Deutschland“. „Ich zerfall in Stücke“ lautet eine Zeile aus „Der Erde gleich“ (dessen erste Hälfte wie ein vergessener Song der Doors anmutet).
Schlicht nach der Band benannte Platten gelten seit dem Weißen Album der Beatles als essenziell. Die zehn Songs des Schwarzen Albums von Die Nerven sind Play-it-out-loud-Stücke, die einem vorkommen, als seien sie brandaktuelle Statements zu der Welt des Oktobers 2022, in der die Corona-Krise gerade den nächsten Anlauf zu nehmen scheint, in der einen wieder täglich Nachrichten von gesunkenen Flüchtlingsbooten erreichen und in der Putins Angriffskrieg auf die Ukraine alle Sicherheiten erschüttert hat.
Nachgerade prophetisch – die Songs entstanden 2018 und 2019
Dabei sind die Lieder in den Jahren 2018 und 2019 entstanden. „Und ich dachte irgendwie / in Europa stirbt man nie“ singt Max Rieger somit nachgerade prophetisch. Eine Akustikklampfe macht den Anfang, bevor ein hochenergetischer, elektrischer Rock ’n’ Roll laut wird.
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Diesen Song hatten sie bei Böhmermann gespielt, gemeinsam mit dem Rundfunktanzorchester Ehrenfeld. Das ist fast ein halbes Jahr her, da war der Krieg knapp zwei Monate alt. Und danach sprachen plötzlich auch Menschen von der Band, an denen die Nerven zuvor vorbeigegangen waren. Und nun ist das fünfte Album erschienen, auf dem der auf dem Vorgängeralbum „Fake“ beschrittene Weg zum Pop zwar weiter verfolgt wird, ohne dass jedoch in den zehn Songs der Nerven-Sound je an Intensität und Kraft verlöre. Hier kommt das bislang eindrucksvollste Deutschrockalbum des Jahres. Hier kommt eine Band, bereit, von einem breiteren Publikum entdeckt zu werden, das mehr fordert als belangloses Schubidu.
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Und das etwas aushalten muss. Die Zukunft hat Shakespeare in „Hamlet“ als „das unentdeckte Land“ beschrieben. Und „Es muss weitergehen“, heißt es in dem Lied vom Influencer, wo Streicher aufsteigen. Die Nerven singen in den letzten Zeilen des letzten Songs „180 Grad“ nun Zeilen die man wahlweise als Nervenverlieren oder als (brachialen) Neuanfang lesen kann: „Alles in und um uns rum / ist zum Zerreißen angespannt / Baby setz den Wagen an die Wand.“
Die Nerven „Die Nerven“ (Glitterhouse Records)