Tiktok-Hit „Friesenjung“: ein ziemlich cleverer Marketingcoup
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/5ZNEIIGFHVAC5MZMB6KVUIZBFM.jpeg)
Vor 30 Jahren veröffentlichte Otto Waalkes seinen Hit „Friesenjung“ – jetzt ist er auf dem Weg zurück in die Charts.
© Quelle: Markus Scholz/dpa
Hannover. Stellen Sie sich vor, Sie sind Newcomer-Rapper, samplen den großen Otto-Hit „Friesenjung“, werden damit über Nacht schlagartig berühmt – und dann hängt der große Erfolg des Hits nur noch an einem einzigen Mann: Otto Waalkes selbst.
Dieser müsste seine Zustimmung geben, um den Song offiziell veröffentlichen zu können – ihm gehören schließlich die Rechte an dem prägnanten Sample. Also betteln und flehen Sie, tagelang, auch mithilfe der eigenen Fans. Bis sich der große Meister der Comedy schließlich unerwartet selbst auf Tiktok anmeldet – und per Reaction-Video im Eilverfahren die Erlaubnis erteilt.
Wie klingt diese Geschichte? Richtig: zu schön, um wahr zu sein. Aber das Internet liebt solche Geschichten nun einmal.
„Hier wird nicht eingebrochen, doch wir hören ein’ Brecher“
Passiert ist all das – zumindest, wenn man seiner Darstellung glaubt – dem Berliner Rapper Ski Aggu. Am 15. Mai geht auf dessen Tiktok-Profil erstmals ein kurzer Clip seines neuen Songs online. Auf einen Neunzigerjahre-Happy-Hardcore-Beat rappt Aggu zusammen mit dem niederländischen Rapper Joost Klein die folgenden prägnanten Zeilen:
„Mmh, ich finde Wein lecker / Ich bin kein Kenner, doch ich bin ein Feinschmecker / Motherfucker, ich küsse deine Schwester / Hier wird nicht eingebrochen, doch wir hören ein‘ Brecher.“
Was folgt ist der Refrain des Otto-Hits „Friesenjung“, der wiederum auf Stings „Englishman in New York“ basiert. Im Aggu-Song ist er hochgepitcht und in dreifacher Geschwindigkeit zu hören.
Millionen Klicks innerhalb weniger Tage
Der kurze Clip, aufgenommen in und außerhalb einer Berliner U-Bahn, entwickelt sich innerhalb weniger Tage zum Tiktok-Hit. 1,7 Millionen Mal wird das Video aufgerufen. Also posten die Rapper weitere Clips: Mal singen Joost und Aggu den Song in einem Späti, mal auf einem Festival, mal in einem Wohnzimmer, mal beim Eisessen, mal vor einem Traktor auf einer Wiese.
Nur fünf Tage später kursiert ein weiteres Video auf Tiktok. Darin ist Ski Aggu auf einem Konzert beim Konstanzer Campus Festival zu sehen. Er und die gesamte Menge rufen nur einen Satz: „Bitte, Otto, bitte.“ Großmeister Otto Waalkes soll die Erlaubnis geben, den Song offiziell veröffentlichen zu dürfen. Aggu geht dafür sogar auf die Knie und fleht in Richtung Himmel.
Und dann passiert das, womit wohl niemand gerechnet hätte: Komiker Otto Waalkes reagiert tatsächlich. Der 74-Jährige meldet sich selbst auf der Teenieplattform Tiktok an und veröffentlicht ein Video. „Holdrio Ski Aggu & Joost, ihr habt meine Erlaubnis 👍🏻🤘🏻🎶“, steht darunter. Nur eine Stunde später veröffentlicht Ski Aggu auf seinem Profil ein neues Video. Darin verkündet er die freudige Nachricht: „Otto hat Ja gesagt.“
Verdammt gutes Marketing
Fans der Rap-Kombo sind außer sich. „Otto, du bist der beste Mann“, ist etwa in den Kommentaren zu lesen. „Ehrenotto“, schreibt ein anderer. Und ein weiterer freut sich: „Endlich, der Sommerbanger 2023.″ Gleichzeitig veröffentlichen die Rapper den Spotify-Link zum Song, wo sich der Track vorab speichern lässt (auch „Pre-Save genannt). Nur drei Tage später, am Freitag, erscheint „Friesenjung“ in der Neuinterpretation auf Spotify und anderen Streamingdiensten.
Vieles spricht dafür, dass sich „Friesenjung“ zum Sommerhit 2023 entwickeln könnte. Allein auf Spotify hat der Song nur zwei Tage nach Release bereits 1,5 Millionen Aufrufe. All das wäre sicher nicht passiert, hätte es nicht die kleine, rührende Tiktok-Geschichte um das ungewöhnliche Musikstück gegeben.
Vieles spricht allerdings auch dafür, dass es sich bei dieser Geschichte vor allem um eines handelt: verdammt gutes Marketing.
Ein Veröffentlichungsprozess dauert
Die Veröffentlichungsprozesse in der Musikbranche sind ein komplexeres Unterfangen. Wer seinen Track auf Portalen wie Spotify oder Apple Music veröffentlichen will, kann ihn dort nicht einfach hochladen wie etwa bei Tiktok oder Youtube. Die Veröffentlichung wird in der Regel mithilfe eines Vertriebs realisiert. Da jede Plattform aber eine andere Bearbeitungszeit hat (bei einigen sind es einige Stunden, bei anderen mehrere Tage), ist stets eine gewisse Vorlaufzeit für die Veröffentlichung nötig.
Wäre die Erlaubnis Otto Waalkes‘ also tatsächlich erst am Dienstag eingetroffen, wäre es fast ein Ding der Unmöglichkeit, bereits am selben Tag einen sogenannten Pre-Save-Link zur Verfügung zu stellen - ein Veröffentlichungsprozess auf Spotify dauert in der Regel ein, zwei Tage. Eine Veröffentlichung bis Freitag wäre rein technisch zwar mit Ach und Krach realisierbar – in der Regel lassen sich Künstlerinnen, Künstler und ihre Labels aber deutlich mehr Zeit, um auch wirklich zu garantieren, dass der Track auf allen gängigen Portalen verfügbar ist. Nichts wäre ärgerlicher, als wenn das Release auf einem der wichtigen Portale fehlt.
Vieles spricht also dafür, dass die Zusage zum Samplen bereits deutlich früher erteilt wurde – und erst im Nachhinein mit der cleveren Promo auf Tiktok begonnen wurde.
„Friesenjung“ ist eigentlich ein Sting-Song
Dafür spricht auch, dass die Rechtelage im Falle „Friesenjung“ eine komplexere ist. Otto Waalkes ist zwar der Urheber des verwendeten Samples, ursprünglich basiert der Song jedoch auf Stings „Englishman in New York“. In der Musikfachsprache wäre der neue Ski-Aggu-Hit demnach eine „Bearbeitung“ des Sting-Hits – und dafür wäre eine gesonderte Erlaubnis des Rechteinhabers (also Sting) notwendig.
In der Praxis läuft das in der Regel so, dass der Musikverlag, der die Interessen der Originalurheber vertritt, um Zustimmung zur Veröffentlichung gebeten wird. Wird nach einer Hörprobe die neue Version als akzeptabel empfunden, werden vertraglich die Details vereinbart.
Unklar ist, wie in diesem Fall die Absprachen zwischen Waalkes und Stings Verlag sind. Möglicherweise hat Waalkes das uneingeschränkte Recht, den Song jederzeit in seiner deutschen Version neu zu veröffentlichen – auch wenn es sich dabei um eine völlige Neuinterpretation handelt, wie der Happy-Hardcore-Version von Ski Aggu und Joost Klein. Dann wäre eine Klärung der Rechte innerhalb weniger Tage tatsächlich möglich. In den Spotify-Credits des Songs „Friesenjung“ übrigens wird Sting, nebenbei bemerkt, gar nicht erwähnt.
Die Neunziger treffen auf Social Media
Klar ist: Die neue Version des Otto-Hits trifft einen Nerv. Die Neunzigerjahre finden seit einigen Monaten den Weg zurück in die Charts – immer mehr Künstlerinnen und Künstler bauen typische Stilelemente des Jahrzehnts in ihre Songs ein. Bei „Friesenjung“ kollidieren gleich zwei davon: Zum einen Ottos Song selbst, der im Jahr 1993 erschien – zum anderen die Musikrichtung des Rave/Happy Hardcore, auf dem die Neuinterpretation basiert.
Der Song von Ski Aggu und Joost Klein steht aber auch für die ganz besondere Internationalität, die es ohne Plattformen wie Tiktok vielleicht gar nicht geben würde. Joost Klein ist ehemaliger niederländischer Youtuber und heute Musiker – bekannt ist er vor allem in seiner Heimat. Geboren und aufgewachsen ist der 26-Jährige in Leeuwarden, was zur niederländischen Provinz Friesland gehört – der Otto-Song passt da nur zu perfekt. Nun gelingt ihm mit „Friesenjung“ auch ein Überraschungshit im Nachbarland.
Der Berliner Rapper Ski Aggu, ebenfalls 26, wurde ab 2018 mit seinen Tracks auf Soundcloud erfolgreich. Mit dem Song „Super Wavvy“ gelang ihm schließlich der endgültige Durchbruch – „Party Sahne“ ist heute mit 36 Millionen Aufrufen sein erfolgreichster Hit auf Spotify. „Friesenjung“ dürfte einer der wenigen bekannten Rap-Songs sein, der aus der Kooperation eines deutschen und eines niederländischen Artists entstanden ist.
All das und das clevere Social-Media-Marketing könnten „Friesenjung“ 30 Jahre nach seinem ursprünglichen Release nun noch einmal zum Hit machen. In Deutschland wurde der Track in den vergangenen zwei Tagen häufiger gestreamt als jeder andere: In den täglichen Spotify-Charts steht er aktuell auf Platz eins. Und seit diesem Freitag (9. Juni) ist der Song in den Offiziellen Deutschen Singlecharts auf Platz eins gelistet.