Neustadt: Corona-Zeit belastet Anonyme Alkoholiker

„Selbsthilfe ist das unterschätzte Thema momentan“, sagt Harald und legt die Betonung auf „das“. Seit Monaten kommt nahezu keine Selbsthilfegruppe zusammen. Dabei sei der Bedarf groß, sagt der Sprecher der Gruppe der Anonymen Alkoholiker (AA) in Neustadt, der wegen besagter Anonymität nur mit Vornamen genannt wird. Seit Mitte November, als der zweite Lockdown begann, klingelt es wesentlich häufiger als sonst unter der AA-Nummer. „Hier ist Harald von den Anonymen Alkoholikern“, meldet er sich dann stets und kann sich sicher sein, dass am anderen Ende der Leitung ein Mensch mit großen Problemen sitzt, der sich die Anwahl nicht leicht gemacht hat. „Oft sind Frauen am Apparat, die sich um den Alkoholkonsum ihrer Männer sorgen“, erzählt er. Vermehrt melden sich Angehörige statt direkt Betroffener. Der Anteil der Männer unter den Alkoholikern ist schließlich immer noch um einiges höher als der der Frauen. Aber auch solche greifen zum Hörer, deren Erkenntnis wächst, dass sie selbst ein Alkoholproblem haben. Im Lockdown werden Alkoholprobleme sichtbar: Eine Erklärung der hohen Frequenz ist für ihn der Lockdown. „Die haben nicht innerhalb der vergangenen neun Monate ein Alkoholproblem aufgebaut“, sagt er. Solch eine „Karriere“ bedürfe vieler Jahre. Jetzt aber, wenn Paare viel mehr Zeit miteinander verbringen, falle es eher auf, wenn der Partner trinke. Oder werde in Beziehungen das angesprochen, was ansonsten tabu sei. Ein offenes Ohr kann Harald anbieten. Viel mehr aber nicht. Gerne würde er jeden von ihnen zu den wöchentlichen Gruppentreffen einladen, doch die gibt es momentan nicht. Gruppenraum jetzt in St. Peter und Paul: Eigentlich ist die Situation der Gruppe besser als noch vor einem halben Jahr. Damals hatte die AOK den Raum gekündigt und die Initiatoren waren auf der Suche nach einem neuen Raum. Den haben sie im katholischen Gemeindehaus von St. Peter und Paul gefunden. Dafür ist die Gruppe der Kirchengemeinde dankbar, konnte in Spätsommer und Herbst auch einige Treffen dort anbieten. Mit dem Lockdown im November war es damit wieder vorbei. Damit stehen die AA nicht alleine da. Im Arbeitskreis der Neustädter Selbsthilfegruppen biete derzeit niemand regelmäßige Treffen an, berichtet Harald. Egal ob Diabetiker, Gehörlose oder Morbus Crohn – Gesprächsrunden sind ausgesetzt. Dabei ist es gerade die Präsenz in einer Runde und das Gefühl, dass andere das eigene Problem teilen, unverzichtbarer Kern der Selbsthilfe. Bislang keine Rückfälle bei Neustadts AAs: Der harte Kern der Neustädter AA ist im Gegensatz zu anderen Ortsgruppen bislang von Rückfällen in die Sucht verschont geblieben. Das beruhige ihn, sagt Harald. Dass er aber denjenigen kaum helfen kann, die jetzt den Mut aufbringen, seine Nummer zu wählen, mache ihm Sorgen. „Wenn jemand Hilfe sucht, muss ich die Hand ausstrecken“, sagt er. Das würde er gerne viel intensiver tun. Was bleibt, ist seine Bereitschaft zu langen Telefonaten und die Hoffnung darauf, dass es bald wieder zu physischen Treffen kommen kann. Infos zu den Anonymen Alkoholikern Neustadt sind im Internet auf www.aa-nrue.de hinterlegt. Telefonisch ist Harald unter (05032) 911925 erreichbar. Von Beate Ney-Janßen