Lehrte: Die Entscheidung über das Aldi-Logistikzentrum bei Aligse naht

Zu Beginn ein Rückblick: Im März 2016, fast exakt vor fünf Jahren, tagt der Ortsrat Aligse-Kolshorn-Röddensen in einem Klassenraum der Aueschule. Rouven Gehrke, Projektleiter beim Discount-Riesen Aldi Nord, spricht vor den Ortspolitikern und einigen Zuhörern erstmals öffentlich über ein Projekt, das schon auf den ersten Blick riesiges Konfliktpotenzial birgt. Ein neues Logistikzentrum wolle man bauen, als Ersatz für jenes bei Sievershausen, das aus allen Nähten platze, sagt Gehrke. Auf dem Acker zwischen Autobahn und Aligse, keinen halben Kilometer vom Dorfrand entfernt. Das Ringen um das Aldi-Logistikzentrum bei Aligse ist auch ein Ringen um die Fakten. Wie groß wird es? Wie laut wird es? Wie viel Verkehr bringt es? Informationen zu dem Projekt finden sich ebenso auf der Homepage des Vereins für Dorferhaltung und Umweltschutz wie auf einer Internetseite von Aldi Nord. Auch der Kolshorner Armin Albat widmet sich auf seiner Internetseite dem geplanten Logistikzentrum. Er wolle mehr Fakten in die Diskussion bringen, sagt er und sei weder Mitglied im Verein für Dorferhaltung und Umweltschutz noch direkt von dem möglichen Aldi-Bauwerk betroffen. „Ich blicke mit etwas Distanz auf die Angelegenheit“, beteuert er. Lesen Sie mehr: Die Internetseite von Armin Albat finden Sie hier Als Motivation dafür, die Faktensammlung zu erstellen, nennt Albat den seiner Meinung nach „mittlerweile ziemlich unübersichtlichen“ Meinungsaustausch zwischen Kritikern und Befürwortern des Logistikzentrums. Einzelne Diskussionsbeiträge seien „nicht immer faktenbasiert“. Es sie daher schwierig, den Argumenten im Detail zu folgen – auch weil die Unterlagen zu dem Thema, die auf der Internetseite der Stadt Lehrte zu finden sind, sehr umfangreich seien. Albat betont, dass er in seinem Factbook nicht die rechtliche Zulässigkeit des Bauvorhabens beurteilen wolle und auch keine Bewertung der Vor- und Nachteile vornehme: „Ziel ist es, die faktenorientierte Diskussion zu fördern. Eine Bewertung des Vorhabens muss jeder für sich selbst vornehmen.“ Albat ist Mitinitiator des Forums Radverkehr in Lehrte. Er ist bei der St.-Petri-Kirchengemeinde in Steinwedel sowie in der Flüchtlingshilfe Lehrte hilft aktiv. Es ist ein Bauwerk, wie es das an Logistikgebäuden reiche Lehrte in dieser Größe noch nicht kennt: 170.000 Quadratmeter Grundstück, 120.000 Quadratmeter versiegelte Fläche, 44.500 Gebäudefläche nur im ersten Bauabschnitt, erweiterbar um weitere 25.000. Maximale Ausdehnung des Bauwerks 327 mal 154 Meter, das doppelte eines modernen Flugzeugträgers, Höhe bis zu 17,50 Meter, 87 Ladeplätze für Lastwagen, 52 Beleuchtungsmasten. Zunächst regt sich kein Protest: Das sind Zahlen, die einen Schreck einjagen. Doch Im März 2016 passiert im Aligser Ortsrat nicht viel. Kein Unmut regt sich unter Dorfpolitikern und Gästen. Doch es gibt viele Fragen, und Gehrke sichert Offenheit und Bürgerbeteiligung bei allen Planungen zu. Angepeiltes Ziel für die Inbetriebnahme das Mammutgebäudes: frühestens Anfang 2019. Mehr als ein Jahr lang nehmen die Dinge ihre Lauf, doch 2017 erhebt Aligses Ortsbürgermeister Frank Seger das Wort – und spricht sich als erster öffentlich gegen das Logistikzentrum aus. Lärm, Verkehr, Zerstörung der Umwelt: All das werde das Bauwerk nach Aligse bringen, das Dorf werde zerstört. Im Sommer 2017 wird der Protest vehement: Und nur wenige Monate später ist der Protest aus der Ortschaft so vehement und ausdauernd, dass er über Jahre hinweg die gesamte Stadtpolitik überlagert. Es folgen Einwohnerversammlungen, medienwirksame Proteste, Holprigkeiten im Planungsverfahren, eine Unterschriftensammlung gegen das Aldi-Zentrum mit 1400 Unterzeichnern, persönliche Anschuldigungen gegen Ratspolitiker – und als Ergebnis eine derart heftige und unversöhnliche Debatte, wie es sie um ein Bauprojekt in Lehrte wohl noch nie gegeben hat. Lange Zeit hat es im Rat der Stadt Lehrte eine sehr breite Mehrheit für den Bau des Aldi-Logistikzentrums gegeben – mit der Ratsmehrheit aus SPD, Grünen und Die Linke an der Spitze. Im Oktober 2019 brach die Front der Zustimmung auseinander. Die CDU vollzog einen 180-Grad-Schwenk und votierte fortan gegen die Fortführung des Planverfahrens. Es habe eine neue Abwägung des Für und Wider gegeben, hieß es seitens der Christdemokraten. Man sehe mittlerweile durch den Aldi-Bau viele Nachteile. Die Vorteile etwa bei Gewerbesteuer und Arbeitsplätzen seien für die Stadt nicht so groß wie zunächst gedacht. Lehrte habe außerdem bereits eine hohe Dichte an Logistikzentren, da dürfe nicht noch ein weiteres hinzu kommen. Eine Rolle spielte beim Umsteuern der CDU spielte sicher auch die Ansicht von Bürgermeister Frank Prüße, der wenige Monate zuvor die Stichwahl gegen Amtsinhaber Klaus Sidortschuk (SPD) gewonnen hatte. Prüße hatte im Wahlkampf gesagt, das Aldi-Zentrum sei bei Aligse falsch platziert. In Aligse flogen ihm daraufhin die Stimmen zu (76,4 Prozent in der Stichwahl), während Sozialdemokrat Sidortschuk (23,5 Prozent) ein Desaster erlebte. Mittlerweile ist die politische Kampflage sogar noch komplizierter geworden. Als es im Februar um die Fortführung des Planverfahrens ging, votierte eine Mehrheit aus SPD, Grünen sowie einem Vertreter der Linken mit Ja, die Opposition mit der CDU an der Spitze mit Nein. Doch diese Fronten sind nicht in Stein gemeißelt. Wilhelm Busch etwa, Christdemokrat und Vorsitzender des Bauausschusses, enthielt sich ebenso wie der CDU-Ortsbürgermeister von Sievershausen, Armin Hapke. Auf Sievershäuser Gebiet befindet sich seit Jahrzehnten das alte Logistikzentrum von Aldi. Beide sagen jetzt, es gebe durchaus unterschiedliche Ansichten innerhalb der CDU zum Aldi-Logistikzentrum. Hapke betont, er habe stets sehr gute Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Aldi gemacht. Außerdem habe er „Mitgefühl für die Mitarbeiter“, die nun befürchteten, dass bei einem Nein zum Neubau bei Aligse ihr Arbeitsplatz verloren ginge oder bald weit entfernt liegen könnte. Busch führt ins Feld, er habe sich stets dafür eingesetzt, dass das politische Verfahren auf eine vorhabenbezogene Planung umgestellt wurde: „Dann kann ich jetzt nicht plötzlich dagegen sein.“ Auch ein Mandatsträger aus der Mehrheitsgruppe hatte sich zuletzt bei dem Thema enthalten: der Immenser Hans-Jürgen Dankert (Die Linke). Hans-Jürgen Licht, Fraktionschef der SPD, betont indes, dass erst nach dem förmlichen Einwendungsverfahren eine endgültige Meinungsbildung bei Rot-Grün-Rot anstehe. „Bisher ist alles ergebnisoffen, wir haben uns nur darum gekümmert, dass das Verfahren voran kommt“, sagt er. Zwar habe sich die Ratsmehrheit bereits intensiv mit den strittigen Fragen zum Verkehr, den Auswirkungen auf die Umwelt, zum Arbeitsmarkt und zu Steuerzahlungen sowie mit der generellen Betrachtung des „Wirtschaftsstandorts Lehrte“ befasst. Doch zu einer abschließenden Bewertung werde man erst im Mai kommen. Nun geht die Sache auf die Zielgerade, im Sommer wird im Rat entschieden, ob Aldi bauen darf oder nicht – was längst nicht mehr so klar ist wie es noch vor zwei Jahren schien. Die Gegner des Projekts, die sich erst in einer Bürgerinitiative und später im Verein für Dorferhaltung und Umweltschutz Aligse zusammengeschlossen haben, gehen jetzt noch einmal in die Offensive, rufen zu offiziellen Einwendungen auf und nennen erneut in Presseerklärungen ihre Argumente. Und die haben es in sich. Thema Gewerbesteuer: Aldi sei ein wichtiger Steuerzahler in Lehrte, hieß es in den Debatten zu Beginn des Planungsverfahrens. Falle er weg, könne das große Probleme geben. Die Gegner des Projekts halten dagegen, dass Aldi 2018 nur 1000 Euro Gewerbesteuer an Lehrte und 2019 gar keine gezahlt habe, was an Verlusten des Konzerns liege. Aldi selbst sagt dazu, man habe viel Geld in seine Märkte gesteckt und daher wenig Steuern zahlen müssen. Der Verein für Umweltschutz und Dorferhaltung führt zudem ins Feld, dass Lehrtes Politiker sich erst in den Haushaltsberatungen für 2021 sehr zufrieden mit der Finanzlage der Stadt gezeigt hätten. An den Einnahmen von Aldi könne also ein Ja zum Logistikzentrum nicht festgemacht werden. Thema Verkehr: 600 Lastwagen- und 500 Autofahrten soll das Logistikzentrum pro Tag maximal hervorrufen. 40 Lastwagen würden durch Aligse fahren. So heißt es in den Planungen. Die Gegner des Projekts trauen diesen Angaben nicht. „Die Bürger werden unter dem Verkehr zu leiden haben“, meinen sie. Das zusätzliche Verkehrsaufkommen lasse sich nicht durch eine Vereinbarung mit Aldi beschränken, da diese nicht prüfbar und damit wirkungslos sei. Hinzu käme die Gefahr von Staus auf der Autobahn, über die der weitaus größte Teil des Lastwagenverkehrs laufen solle. Wenn die A2 dicht ist, suchten sich die Fahrer andere Wege durch das Stadtgebiet – und zwar durch die Kernstadt, Immensen oder Hämelerwald, erhöhte Unfallgefahr inklusive. Thema Lärm: Die Gleichung ist simpel: Mehr Verkehr bringe mehr Lärm, meinen die Gegner des Logistikzentrums. Lärm mache nachweislich krank, der Lärmaktionsplan der Stadt sei noch nicht verabschiedet und daher unwirksam. Beispielhafte Messungen in Aligse hätten längst bestätigt, dass es schon jetzt an vielen Stellen im Dorf zu laut sei, etwa an der Ortsdurchfahrt der Bundesstraße. Die von der Stadt finanzierte Messstation am Ortsrand (Zur Kreuzeiche) belege seit September 2020, dass die Werte nachts doppelt so hoch seien wie es für Wohngebiete zulässig ist. Lesen Sie auch: Digitale Einwohnerversammlung am 25. März – so kann man dabei sein Thema Gewerbeflächen: In Lehrte gibt es eine ganze Reihe von mittelständischen Unternehmen, die Platz für einen Umzug oder Erweiterungen brauchen. Das ist unstrittig. All diese Firmen seien verlässliche Steuerzahler, brächten Arbeitsplätze, und daher müsse man sie in der Stadt behalten, lautet die Argumentation des Aligser Vereins. Es gelte, den Mittelstand auszubauen und Gewerbegebiete für kleinteilige Ansiedlungen zu schaffen, und nicht, Lehrte als Logistikstandort weiter auszubauen. Das Aldi-Zentrum manifestiere aber diese Monostruktur und jage die Mittelständler geradezu aus der Stadt. Kommt es, oder kommt es nicht? Noch vor der Sommerpause der Lehrter Lokalpolitik, also vermutlich im Juli und damit nur rund zwei Monate vor den Kommunalwahlen, soll die finale Entscheidung über den Bebauungsplan für das geplante Logistikzentrums fallen. Darin sind sich die politischen Lager im Rat sowie die Stadtverwaltung zuletzt einig gewesen. Doch bis dahin dürfte sich die Diskussion noch einmal zuspitzen – und zwar nicht allein in der Online-Einwohnerversammlung am Donnerstag, 25. März. Denn im nächsten offiziellen Verfahrensschritt sind unter anderem die Bürger an der Reihe, ihre Meinung und Argumente zu dem Projekt zu äußern. Die sogenannte Auslegungsfrist der Planungsunterlagen hat bereits begonnen. Weil sie auch die Osterferien umfasst, ist sie etwas länger als üblich. Schriftliche Stellungnahmen sind bis zum 16. April unter Angabe von Namen und Adresse an die Stadt Lehrte, Fachdienst Stadtplanung, Rathausplatz 1, möglich. Online sind die Planungsunterlagen auf der Homepage der Stadt zu finden. Dass es Einwände gegen das Logistikzentrum in Hülle und Fülle geben wird, steht außer Zweifel. Der Verein für Dorferhaltung und Umweltschutz in Aligse, der gegen das Bauvorhaben kämpft, bietet nun sogar all jenen, die keinen Drucker zu Hause haben, sich aber äußern wollen, einen Service: Vordrucke mit den nötigen formalen Angaben für eine korrekte Einreichung der Anmerkungen liegen in Aligse im Dorfladen und in der Physiopraxis Hinkelthein, in Klein Kolshorn beim Pferdehof Mundt, in Röddensen bei Heinz Hilmer, in Steinwedel im Landladen und in Immensen beim Landhandel Mundt aus, teilt der Verein mit und appelliert eindringlich an die Bürger, von ihrem Mitspracherecht Gebrauch zu machen. Nach dem 16. April werden die Einwände dann bei der Stadtverwaltung gesichtet, nach planungsrechtlichen Kriterien ausgewertet, abgewägt und nach ihrer Relevanz eingestuft. Das mündet in eine endgültige sogenannte Beratungsvorlage für die politischen Gremien der Stadt, in der die Verwaltung eine Beschlussempfehlung gibt. Damit ist nicht vor Ende Mai zu rechnen. Danach geht es mit öffentlichen Beratungen im Umweltausschuss und im Bauausschuss weiter sowie mit nichtöffentlichen Gesprächen im Verwaltungsausschuss – und schließlich wieder mit der öffentlichen und finalen Beschlussfassung im Rat. Thema Naherholung, Klima und Natur: „Durch den geplanten riesigen Baukörper wird der Erholungswert der Aligser Feldmark beeinträchtigt“, heißt es in einer Mitteilung des Vereins für Dorferhaltung und Umweltschutz. Die Versiegelung von zwölf Hektar Ackerfläche werde das Mikroklima in dem Bereich schädigen und widerspreche damit dem erst im vergangenen Jahr vom Rat verabschiedeten lokalen Klimaschutzprogramm Lehrtes. Mehr noch: Nur 50 Prozent des Regenwassers könnten auf dem Aldi-Gelände versickern. Das bringe negative Folgen für die Entwicklung des Grundwassers der Umgebung, doch darüber gebe es nicht einmal ein Gutachten. Und schließlich müssten für das Logistikzentrum 124 Bäume gefällt werden, vorwiegend Stieleichen, die ein wichtiger Lebensraum unter anderem für Fledermäuse und Vögel seien. Von Achim Gückel