Wennigsen: Musicon setzt sich für ein inklusives Miteinander ein

Volker Hirschfeld schaut geduldig zu, wie Irmela König den Weberkamm nimmt und die neue Reihe nach unten schiebt. „Irmela hat einen Webstuhl zu Hause, und ich habe ihr alle Arbeitsschritte beigebracht“, sagt Hirschfeld und ergänzt stolz: „Wir sind am Ende des Kurses, sie kann jetzt weben.“ Hirschfeld ist einer der Menschen mit Assistenz, die bei Musicon arbeiten – und nun auch Kurse anleiten. „Das ist erfüllend, stärkt mein Selbstbewusstsein und es bringt mich auch persönlich weiter“, sagt Hirschfeld. Zudem zeige man allen Teilnehmern von Kursen, dass Menschen einfach Menschen sind – man teile sie bei Musicon nicht in Rollen wie „behindert“ und „nicht behindert“ ein. Musicon-Mitarbeiter werden zu Kursleitern: Dass Hirschfeld und die weitere Musicon-Mitarbeiter jetzt auch Kursleiter sind, ist Teil des innovativen Inklusionsprojekts der sozial-künstlerischen Stätte. Bei dem Projekt soll soziale Inklusion als gesellschaftlich gestalteter Beziehungsprozess ermöglicht werden, heißt es in der Projektbeschreibung. Sozial-Vital heißt das Projekt, das als eine von 16 Aktionen für ein bundesweites Projekt ausgewählt wurde. Vier Jahre lang schaut Musicon nun, ob aus ihren Ansätzen ein inklusives Gemeinwesen entwickelt werden kann. „Unsere Arbeitskultur im Musicon zeigt, dass die Befähigung von Menschen mit Assistenz noch ganz andere Chancen zu ihrer eigenen Verwirklichung birgt und gleichzeitig das Potenzial zur Entwicklung neuer inklusiver Arbeitsformen enthält“, sagt Kurt Eschmann, der Musicon vor nunmehr 33 Jahren gegründet hat – damals noch als Betrieb für Menschen mit Behinderung. Heute, so betont Eschmann, stehe Musicon für alle Menschen offen. Und das gelinge, auch dank des neuen Projekts, gut, ergänzt Musicon-Mitarbeiter Hannes Howind. „Wir schauen, wer welche Stärken mitbringt und wie wir die Ressourcen des Einzelnen jeweils nutzen können.“ Das sind die weiteren Ansätze des Projekts: Peerbegleitung: Menschen mit psychischen Erkrankungen, die aus der Klinik entlassen werden, erhalten innerhalb des Projektes die Möglichkeit einer sogenannten Peerbegleitung. Mehrere Monate kommen sie zu Musicon und erhalten eine Grundausbildung im kunsthandwerklichen Bereich. Ein großer Vorteil: „Auch wir haben Psychiatrie-Erfahrung“, sagt Laura Kavanek. „Dadurch haben wir einen ganz anderen Blick auf das Thema, können anders miteinander umgehen.“ Kultur: Musicon-Mitarbeiter setzen auch auf Kulturveranstaltungen wie Konzerte, Ausstellungen und Gespräche mit Akteuren aus der Gemeinde. Kein ganz neuer Ansatz, verrät Kurt Eschmann. „Wir hatten in den vergangenen Jahren über 100 öffentliche Veranstaltungen“, sagt er. Aktionsforschung: Regelmäßig tauschen sich die Musicon-Mitarbeiter, Kursteilnehmer und örtliche Vereine und Institutionen über die Kurse und Ansätze aus, schauen, was gut lief und was noch weiterentwickelt werden muss. Inklusion: Alle Maßnahmen von Sozial-Vital haben als Ziel, die inklusive Beziehungsgestaltung in unserem Gemeinwesen voranzubringen. Inklusiv besetzte Arbeitsgruppen und Gremien über mehr Kultur-, Gemeinwohl- und Ressourcen-Bewusstsein sprechen nicht nur, sondern erproben, zum Beispiel gemeinsam mit Vereinen, diese Themen auch praktisch und leben sie gemeinsam.Es gehe auf allen Ebenen nicht nur um den Behindertenstatus, sondern um eine grundsätzliche Inkludierung von Mensch und (Um)-Welt. Musicon ist eine sozial-künstlerische Stätte als freie Arbeits- Kultur-, und Wohngemeinschaft. Musicon ist auch der Name des gemeinnützigen Trägers, der 1988 als Kultur-, Bildungs- und Forschungseinrichtung gegründet wurde. Von 2004 bis 2018 hat Musicon mit 35 Menschen mit Behinderungen in der Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet. Doch diese Form der Arbeit hat Musicon 2018 beendet, sagt der stellvertretende Vorsitzende, Christiane Maiwald. Jetzt gehe das Team gemeinsam mit sieben Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen einen neuen Weg. Sie suchen und erproben in Richtung einer „inklusiven Arbeitsstätte“ als „Bildungs-, Kultur- und Forschungseinrichtung Musicon“ nach mehr inklusiven Arbeitszusammenhängen – in ihrer Buchbinderei, der Weberei, in weiteren künstlerisch-handwerklichen Bereichen und in verschiedenen Betrieben in der Region. Der Bundesverband anthroposophisches Sozialwesen, in dem derzeit bundesweit 263 Einrichtungen für Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung zusammengeschlossen sind, sucht Beiträge für inklusive Gemeinwesen. Am Projekt interessierte Dorf- und Lebensgemeinschaften, Menschen mit Assistenzbedarf und lokale Akteure im kommunalen Sozialraum gestalten gemeinsam innovative Inklusionsprojekte, um Haltungen, Lebenslagen und Lebenspraxis in Richtung einer inklusiven, nachhaltigen und achtsamen Gesellschaft zu verändern. Die Befähigung von Menschen mit Assistenzbedarf zur Verwirklichung ihrer Chancen macht sie zu Gründern und Lehrern neuer sozialer Formen. Ziel ist soziale Inklusion als gesellschaftlicher Wandlungsprozess auf allen Gesellschaftsebenen. Die Beispielprojekte aus ganz Deutschland entwickeln im Projektverlauf aus dem Konzept eigene Indikatoren und ein soziales Verfahren, dass es ihnen ermöglicht, den Fortschritt der Inklusion in den Gemeinwesen, in denen ihr Projekt stattfindet, zu reflektieren, zu fördern und zu steuern. Von Lisa Malecha