Kritik an Aussagen zu sexuellem Missbrauch: Gläubige wütend auf Kölner Kardinal Woelki

Vor allem Kraft ist es, die Menschen in der Kirche, in ihrem Glauben suchen. Trost, wenn sie traurig sind, Inspiration, wenn sie nicht weiterwissen, Zusammenhalt, wenn sie sich alleine fühlen, kurz: Bestärkung in Krisen. Dann bereitet Glauben Freude, macht er stark, kann er beflügeln. Im Erzbistum Köln fällt das vielen Christen zunehmend schwer. Das Bistum um Rainer Maria Kardinal Woelki befindet sich in einer seiner wohl schwersten Krisen. Das liegt vor allem an der Aufarbeitung der Fälle sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen durch Priester des Erzbistums. Das hatte ein Gutachten in Auftrag gegeben, das die Münchner Kanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl auch erstellt hat. Doch entgegen aller Ankündigungen zur Aufklärung „ungeschönt und ohne falsche Rücksichten“, wie es Kardinal Woelki angekündigt hatte, hat das Bistum das Gutachten lieber nicht veröffentlicht. Es habe „methodische Fehler“ aufgewiesen. Ein neues ist in Auftrag. Ein Schritt, der viel Unverständnis hervorrief, denn: Wer will schon aufklären, zieht dann aber die Aufklärung erst einmal zurück? Passte da jemandem nicht, was im Gutachten stand? Verwirrende Entschuldigung: Und noch weiter wuchs der Unmut ausgerechnet in der Heiligabendpredigt des Kardinals: Im Kölner Dom nahm Woelki Bezug zum Vorgang. „Zu den Sorgen, die Sie alle durch Corona ohnehin schon haben“, wandte er sich an die Gläubigen, „haben wir, habe ich leider noch eine Bürde hinzugefügt. Was die von sexueller Gewalt Betroffenen und Sie in den letzten Tagen und Wochen vor Weihnachten in Zusammenhang mit dem Umgang des Gutachtens zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt im Erzbistum, was Sie an der Kritik darüber und insbesondere auch an der Kritik an meiner Person ertragen mussten – für all das bitte ich Sie um Verzeihung.“ Diese Kritik, die insbesondere auch ihm gelte, „tut mir aufrichtig und von Herzen leid“. Nur: Wenn das so ist, warum ändert er dann nichts daran? Denn als Kardinal könnte Woelki genau das. Was offenbar auch Pfarrer Klaus Koltermann aus Dormagen bei Köln fand. Er hatte sich in einem Leserbrief an den „Kölner Stadt-Anzeiger“ gewandt und dem Kardinal vorgeworfen, jede „Glaubwürdigkeit verspielt“ zu haben. Woelki hätte in der Christmette nicht um Verzeihung bitten sollen für die Kritik, die an ihm ausgeübt wird, sondern vielmehr hätte er um Verzeihung bitten sollen für seinen bisherigen Umgang mit dem Skandal. Als erster Pfarrer im Erzbistum, berichtete der „Kölner Stadt-Anzeiger“ am Sonnabend, habe sich Koltermann offen hinter Rücktrittsforderungen an den Kardinal gestellt. „Einerseits“, habe der Geistliche der „Neuss-Grevenbroicher Zeitung“ gesagt, „bin ich zum Gehorsam gegenüber dem Bischof verpflichtet. Andererseits kann ich es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren zu schweigen.“ Dienstrechtliche Konsequenzen: Nun soll keiner behaupten, das Erzbistum könne nicht auch konsequent handeln: Denn als Konsequenz auf seine Kritik am Dienstherrn bekam Koltermann offenbar bereits am Tag nach der Äußerung einen zweiseitigen Brief des Kölner Generalvikariats. Personalchef Mike Kolb hinterfragte darin laut „Kölner Stadt-Anzeiger“, ob die Kritik mit „Loyalitätsobliegenheiten im seelsorglichen Dienst vereinbar“ sei. Das könne dienstrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen, der Pfarrer sollte angeblich Stellung beziehen. Wobei der Geistliche bestreite, seinem Dienstherrn geschadet zu haben. Er habe lediglich die Sorgen vieler Gläubiger um die Zukunft des Erzbistums geltend gemacht, zitiert ihn die Zeitung. Die Sorgen nehme er ernst und werde sie auch weiter äußern. Was im Übrigen nicht disziplinarisch zu ahnden sei, da es sich um eine Gewissensentscheidung handle. Und mit der Sicht steht Pfarrer Koltermann nicht alleine: Seit November äußern sich immer wieder Geistliche kritisch. Vor allem ein Brief des Pfarrers Meik Schirpenbach der Pfarrgemeinschaft Grevenbroich–Vollrather Höhe hatte sich digital von Ende November an rasant im Erzbistum verbreitet. In den „Fragen an meine Kirche“ befasst er sich auf drei Din-A-4-Seiten vor allem mit der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals und der unrühmlichen Haltung des Erzbistums dabei. „Das Vertrauen in weite Teile der Kirchenleitung ist auch bei den treuesten Kirchgängern zutiefst erschüttert“, schreibt Pfarrer Schirpenbach. Natürlich habe das zu Kirchenaustritten geführt. Und mit allen Ausgetretenen sollen die Pfarrer Gespräche führen, „aber was sollen wir denn zu Dingen sagen, für die wir nichts können?“, fragt der Seelsorger. „Ich möchte als Priester nicht in Sippenhaft genommen werden, weder für Mitbrüder, die Missbrauch begangen haben, noch für Versagen der Kirchenleitung.“ Er sehe jedoch die Gefahr, dass die katholische Kirche im Erzbistum Köln noch über Jahre lediglich mit sich selbst beschäftigt sein werde, mit dem eigenen Machterhalt. Und Schirpenbach fragt: „Ist es nicht die Sorge um die Institution, die zur Vertuschung geführt hat? Brauchen wir nicht die schonungslose Erschütterung, damit aus Trümmern Neues wachsen kann?“ Kulturwandel der Kirche gefordert: Das sieht auch Doris Reisinger so. Die katholische Theologin der Goethe-Universität Frankfurt am Main geht in einer Geschichte für „Zeit online“ sogar soweit zu fragen, ob die katholische Kirche in der Aufarbeitung aller Missbrauchsverfahren sogar noch viel tiefgründiger sein müsste. Es gehe nicht nur um Gutachten, die Anerkennung von Schuld oder Entschuldigungen. Letztlich gehe es um einen kirchlichen Kulturwandel, wie es der verstorbene Weihbischof von Sydney, Geoffrey Robinson, schon zu Beginn der 2000er-Jahre vom ebenfalls verstorbenen Papst Johannes Paul II. gefordert hatte: Eine Reform des Kirchenrechts müsse her, ein grundlegender Kulturwandel. Strafverfahren dürften nicht nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, gerade Missbrauchsverfahren müssten öffentlich geführt werden, sofern die Opfer dies wollten, eben um jeglichen Anschein von Vertuschung zu vermeiden. Außerdem solle Opfern erlaubt sein, Akteneinsicht in die Verfahren zu nehmen, und es müsse einen Nebenklägerstatus für sie geben. „Ohne einen Bruch mit dem bestehenden System Kirche“, schreibt Reisinger, „dessen Regeln bis heute Täter schützen, Vertuscher belohnen und Opfer ausgrenzen, wird eine wirklich annehmbare Entschuldigung eines kirchlichen Verantwortungsträgers nicht zu haben sein.“ Nachdem der Grevenbroicher Pfarrer Meik Schirpenbach seine Kritik geäußert hatte, hätten sich viele Gläubige an ihn gewandt, weil sie personelle Konsequenzen für ihn fürchteten, berichtet er. „Warum haben sie den Eindruck, dass unsere Kirche in Bezug auf den Klerus ein System von Befehl und Gehorsam sei“, überlegt er, „von unbedingter Loyalität und totaler Identifikation, Macht und Abhängigkeit, das keine Nestbeschmutzer dulde? Erschreckt es nicht zu Tode, dass wir mit solchen Kategorien in Verbindung gebracht werden? Viele unterstellen uns einen Korpsgeist, aus dem heraus der Schutz der eigenen Gruppe wichtiger war als das Leid der Missbrauchsopfer.“ Aufarbeitung „wird schmerzlich“: Gedanken, zu denen auch die Einschätzung des Bischofs Stephan Ackermann passt, dem Beauftragten der Deutschen Bischofskonferenz für Fragen des sexuellen Missbrauchs: Er vermutet, die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche Deutschlands werde über Jahre „ein schmerzlicher Prozess werden“. In den nächsten fünf Jahren müssten sich alle 27 Bistümer bundesweit einer unabhängigen Aufarbeitung durch eigens eingerichtete Kommissionen stellen, in der es um „Verantwortlichkeiten“ gehe. Darum, wie mit Tätern und Opfern umgegangen worden sei. „Da geht es auch um Personen. Und das wird schmerzlich, weil die Bilder, die man von Personen hat, die auch prägend und positiv waren, eine neue Seite hinzubekommen“, kündigte der Bischof von Trier am Sonntag an. Spannend wird sein, wie der Kölner Kardinal Woelki dabei abschneiden wird. „Wir sind Kirche“ unterstützt Koltermann: Die Reformbewegung „Wir sind Kirche“ solidarisierte sich jedenfalls schon mal mit dem Dormagener Pfarrer Klaus Koltermann, dem das Erzbistum Köln wegen der Kritik an Woelki die dienstrechtlichen Konsequenzen angedroht hatte. Es könne nicht sein, betonte „Wir sind Kirche“-Sprecher Christian Weisner, dass Koltermann wegen seiner Kritik an Woelki vorgeworfen werde, gegen die katholische Kirche zu agieren. Das erinnere an autoritäre und diktatorische Staaten, wo „Kritik an der Leitung mit Kritik am System gleichgesetzt und strafrechtlich verfolgt“ werde. Im Herbst 2018 hatte die katholische Kirche Zahlen zu sexuellem Missbrauch veröffentlicht. Demnach wurden bundesweit von 1946 bis 2014 in den Personalakten 1670 Kleriker wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger beschuldigt. Es gab 3677 Opfer. Von Verena Koll und Christoph Driessen