Die Kirche der Zukunft ist in Bremerhaven

Die Zahlen der Kirchenaustritte steigen in der Landeskirche Hannovers. 2019 haben sich 30.413 Menschen abgewandt, so viele wie zuletzt Anfang der 1990er Jahre, sagt Pastor Benjamin Simon-Hinkelmann, der Sprecher der Landeskirche. Aber in Bremerhaven, da tut sich was: In der Emmaus-Gemeinde in Geestemünde und Grünhöfe ist die Kirche voll. Was ist da los? Die NP fragte Maximilian Bode (29; aus Klein Förste im Landkreis Hildesheim) und Christopher Schlicht (31; war zum Zivildienst in Hannover), seit drei Monaten leiten sie die Gemeinde. Kirche sei eine Mischung aus Fußballstadion und Wohnzimmer, haben Sie mal gesagt. Wie passt denn das zusammen? Chris : Im Stadion sind die Gefühle echt, im Wohnzimmer die Sprache. Das führen wir in der Kirche zusammen, die Gefühle und die Sprache. Nur, dass wir eben nicht über Tore sprechen, sondern über die Liebe Gottes. Und dafür wollen Sie Sofas in die Kirche stellen. Max: Stimmt. Darum kümmert sich ein Team aus Ehrenamtlichen. Sie suchen Spender, organisieren den Transport und stellen die Sofas dann in der Kirche auf. Chris: Das dauert zwar etwas länger, als wenn wir das einfach machen würden. Aber das mit den Ehrenamtlichen ist wichtig. Denn so, wie wir Gemeinde denken, gehört Beteiligung dazu. Viele wünschen sich eine Aufgabe, wollen mitwirken. Max: Auf die Art hat keiner das Gefühl: „Die Pastoren stellen uns da irgendwas hin.“ Was rüberkommt, ist: „Das sind unsere Sofas, die haben wir besorgt, wir gestalten unsere Gemeinde.“ Chris: Dieses Miteinander versuchen wir, wann immer möglich zu leben. Neulich haben wir zum Beispiel im Gemeindegarten gearbeitet. Wir haben einen Grill dazu gestellt und alle hatten einen schönen Nachmittag. Wer hat die Musik dazu ausgewählt? Metal-Fan Max oder Techno-Freund Chris? Chris ( lacht ): Es gab eine gemeinsame Playlist. Und natürlich darf die Gemeinde auch da immer mitreden. Auch im Gottesdienst? Sie haben die Orgel verworfen, dafür spielt eine Live-Band. Chris: Uns leitet ja der Wohnzimmergedanke. Zu Hause lege ich mir nie Orgelmusik auf. Da höre ich eben was anderes. Also haben wir uns gedacht: In der Kirche muss es auch anders klingen. Woher kommt die Band? Max: Aus der Gemeinde. Unsere Kantorin Vivian Glade hatte eine private Band. Wir haben Vivian von unserer Idee erzählt und sie schlug vor, das mit ihrer Band und Sängern aus dem Kirchenchor auszuprobieren. Und dazu stehen Sie ohne Talar, dafür aber in Jeans, Pastor Chris mit Basecap und Pastor Max mit lilafarbenen Haaren am Altar. Gefällt das denn jedem? Chris: Einige ältere grüßen mich schon mit: „Och, da kommt der Pastor mit den bunten Bildchen am Arm.“ Ihre Tattoos. Chris (lacht): Genau. Max: Aber zwei Besucherinnen, die eigentlich zu den regelmäßigen Kirchgängerinnen gehört hatten, war’s zu derbe. Die kommen leider nicht mehr. Dafür haben wir jetzt regelmäßig sonntags die Kirche mit 40 Besuchern voll, für die es genau richtig ist. Mehr dürfen wegen der Corona-Vorgaben nicht rein. Chris: Darum bieten wir am Sonntag zum ersten Mal einen zweiten Gottesdienst an, um ein breiteres Spektrum zu bedienen. Um 10 Uhr den herkömmlicheren Gottesdienst, dann werden wir auch Talar tragen. Und um 17 Uhr den Katergottesdienst, so, wie wir ihn geil finden. Sie haben innerhalb von drei Monaten die Besucherzahl vervielfacht? Chris: Ja, und wir hätten nie gedacht, dass das so ankommt. Wir hatten gehofft, dass wir nach anderthalb Jahren da stehen würden, wo wir jetzt sind. Aber nicht so schnell. Und was uns das Herz wirklich platzen lässt, sind Menschen, die zu uns kommen und sagen, sie seien ewig nicht in die Kirche gegangen. Aber jetzt kämen sie nicht nur regelmäßig, sondern würden sich mittwochs schon auf den nächsten Sonntagsgottesdienst freuen. Ein krasses Geschenk. Max: Du kannst gute Arbeit vor Ort machen, kannst mit den Leuten Ideen entwickeln, aber der Rest ist Gottes Hilfe. Chris: Wir haben inzwischen sogar Menschen, die uns von irgendwoher anrufen. Max: Seit über uns berichtet wird, rufen Leute an, die wir gar nicht kennen. Chris: Kurz vor unserem Gespräch hatte ich noch eine Dame in der Leitung, die rief aus dem Schwarzwald an. Sie sagte, eigentlich sei sie ja katholisch, aber das, was sie da über uns gelesen hätte, das hätte sie sich schon seit Jahren gewünscht und sie wollte nur mal danke sagen, dass wir das machen. Ist Ihr Konzept die Kirche der Zukunft? Chris: Wir sind sicher ein Teil davon, was die Kirche der Zukunft sein kann. Allerdings kann man das so nicht überall umsetzen. Als wir uns bei der Landeskirche um eine gemeinsame Stelle beworben haben ... Max: ... das Pastoren-Team war eine Idee von Landesbischof Ralf Meister ... Chris: ... als wir uns also gemeinsam beworben haben, haben wir darum gebeten, eine Gemeinde zu bekommen, wo’s Power braucht. Und die Menschen, die hier leben, freuen sich jetzt, dass mal nicht nur über das Problemviertel berichtet wird, sondern dass hier auch mal Gutes gesehen wird. Max: Und letztlich sind die Ideen, die wir hier leben, ja nicht neu. Die gibt es seit Jahrzehnten. Wir probieren sie nur mal einfach aus. Auf Skateboards statt mit dem Dienstwagen. Max: Bei Gesprächen innerhalb der Gemeinde in einem Umkreis von drei Kilometern. Habe ich einen Kollegenbesuch sechs Kilometer weg, ist mir das zu weit, dann nehme ich das Fahrrad. Chris: Und beim Trauergespräch nehme ich auch lieber das Fahrrad, das kann ich anschließen. Ich möchte den Angehörigen nicht sagen: „Mein herzliches Beileid. Und wo kann ich eigentlich mein Skateboard hinpacken?“ Von Verena Koll