Komisches Gefühl, wenn man den Raum betritt, man hört ein Herz schnell vor sich hin pulsieren, ein roter Leuchtbalken blinkt im Takt. Rundherum hängen medizinische Testate, Blutanalysen, Schädelvermessungen – auch so kann ein Selbstporträt aussehen.
Es ist der Herzschlag von Teresa Burga, dieses Spiel mit der altehrwürdigen Kunstform ist typisch für sie. Die Kestnergesellschaft präsentiert einen überragenden Überblick über ein erstaunliches Lebenswerk (130 Werke aus sechs Jahrzehnten), das in den 60er Jahren beginnt und bis in die unmittelbare Gegenwart reicht.
Und dabei hat Teresa Burga, wie es Kestner-Direktorin Christina Végh sieht, „eine unglaubliche Aktualität“ und etliche Themen vorweggenommen, die uns noch und immer mehr beschäftigen, Femininismus, Bedrohung durch übermäßiges Datensammeln, biopolitische Auswüchse.
Und das alles unter dem Motto „Aleatory Structures“, wie die Ausstellung passenderweise heißt. Die Zufälligkeit der Strukturen kann dabei auch durch den Besucher erzeugt werden, wie die Installation „Prisma“ zeigt. Fröhlichbunte architektonische Elemente ergeben immer wieder neu eine Pop-Art-Stadt, die in der ursprünglichen Vorstellung vor 50 Jahren von den Besuchern immer wieder neu arrangiert wurden – was heute aus konservatorischen Gründen natürlich nicht mehr geht.
Dabei ist Teresa Burgas erster Schritt zur Kunst hochkalkuliert, wenn dann umfangreiche, fast raumsprengende Arbeiten entstehen wie im oberen großen Saal der Kestnergesellschaft. Hier hat sie eine Art Vermessung der peruanischen Frau vorgenommen und die Ergebnisse (Bildung, Wahlverhalten, Körperpropartionen, Arbeitsverhältnisse) in teils verblüffende Einzelkunstwerke überführt. Das berufliche Profil lässt sich an einem Konstrukt aus Wollfäden ablesen, die die ermittelten Zahlen in einer alten Inka-Knotentechnik abbilden. Das muss man natürlich wissen – obwohl die teils sehr konzeptuellen Werke an sich einen gewissen Zauber haben. Wie die Umsetzung eines Jorge- Luis -Borges-Gedichts in Diagramme.
Und manches ist ebenso poetisch wie leicht zugänglich – wenn die Künstlerin in einem späten Zyklus Kinderzeichnungen auf ihre eigene Art kopiert und dadurch sowohl die Frage nach Originalität und Validität in der Kunst stellt.
Teppiche sind wie Gesellschaften, sie existieren nur durch das Zusammenwirken von unzähligen Menschen und weisen eine unüberschaubare Struktur auf.
Das ist es, was die türkische Künstlerin Nevin Aladag an dem textilen Grundstoff für ihre Kunst faszinierte – die sie in der Kestnergesellschaft in der zweiten Ausstellung unter dem passenden Titel „Social Fabric“ zeigt. Verarbeitet sind geknüpfte Kelims, wertvolle Schurwoll- und Seidenteppiche, industrielle Massenware – bis hin zu einem Teppich aus ihrem Elternhaus. Ohne sich zu überlagern, ergeben sie eine „soziale Struktur“ namens „Social Fabric“.
Wie die Stadt spricht, erfährt man von Nevin Aladag in der Videoarbeit „City Language I“ in der sie verschiedene Instrumente beim Übersetzen über den Bosporus auf ungewöhnliche Weise zum Klingen bringt.
Eröffnung: Die Ausstellungen von Teresa Burga und Nevin Aladag laufen bis zum 3. Februar.
Von Henning Queren