Diese Kostüme! Okay, der Roman von Axel Ranisch heißt „Nackt über Berlin“, aber die Darsteller für die Theaterfassung in hautfarbenen Grobstrick zu stecken, so dass sie aussehen wie Puppen mit stark betonten Geschlechtsmerkmalen: Das ist dann doch arg plakativ. Und einigermaßen schade, hat der Abend doch sonst so viele Zwischentöne zu bieten – die Premiere im Ballhof erntete zu Recht großen Applaus.
Wiewohl das Stück im Rahmen des „Jungen Schauspiels“ läuft und das schulische Umfeld in der Handlung eine wichtige Rolle spielt, ist diese Inszenierung auch für Erwachsene voll geeignet. Denn die Themen, die hier verhandelt werden, sind elementar: Es geht um Schuld und Sühne, um Lügen bis hin zu Lebenslügen.
Alles beginnt, als die Schüler Jannik und Tai ihrem heftig bezechten Direktor auf der Straße begegnen und den ramponierten Zustand des Mannes ausnutzen, um ihn in seinem eigenen Apartment einzuschließen – der technikbegabte Tai sorgt dafür, dass dem solchermaßen Gefangenen jeder Kontakt zur Außenwelt unmöglich gemacht wird. Weshalb das alles? Vor kurzem hat sich eine Tragödie abgespielt: Die in einen Lehrer verknallte Mitschülerin Melanie ist in den Tod gesprungen, und womöglich sind die Hintergründe der schrecklichen Tat vertuscht worden. Mit blankem Psycho-Terror soll der Direktor nun zu Eingeständnissen gezwungen werden.
In der Musik (Robert Pawliczek) wird mehrfach das Riff aus „Come Together“ angedeutet – das „Abbey Road“-Album der Beatles spielt auch in einer Szene eine gewisse Rolle. Natürlich ist dieses Zitat ironisch eingesetzt, zumindest stehen große Gemeinsamkeiten kaum im Vordergrund. In der mit Parallelhandlungen und Rückblenden angereicherten Geschichte brechen überall Konflikte auf. So grübelt der bekennende Tschaikowsky-Fan Jannik über seine sexuelle Orientierung nach und bekommt durch den vernagelten Vater keine Unterstützung. Und wie weit geht wohl das Kollegium, um den guten Ruf der Schule zu wahren? Auch das Publikum wird einbezogen, per Ansprache mal zur Gesamtlehrerkonferenz und mal zur Schülerschaft erklärt.
Regisseur Matthias Rippert ist der ganz große Spagat gelungen, seiner Inszenierung einen hohen Unterhaltungswert mitzugeben, ohne darüber die Ernsthaftigkeit der Thematik zu denunzieren. Es wird aus gutem Grund viel gelacht im Publikum – es hat ja auch oft etwas äußerst Witziges, wie sich die Figuren da winden, und bekanntlich ist die Grenze zwischen Komödie und Tragödie letztlich oft sehr schmal. Ohne hervorragende Darsteller würde das gleichwohl nicht klappen, und das Sextett, das sich hier tummelt, ist durch die Bank Extraklasse: Nikolai Gemel und Fabian Dott geben die beiden Schüler und haben zusammen mit Mathias Max Herrmann als Direktor die prominenteren Parts, aber auch Viktoria Miknevich, Carolin Knab und Lukas Holzhausen wissen zu überzeugen. Mit einer kleinen Einschränkung: Vereinzelt vergessen die Akteure die hohe Sprachkultur und geraten ein wenig ins Nuscheln.
Zweieinhalb Stunden Dauer sind eine Menge Holz, und wenngleich die Erklärungen und Geständnisse am Schluss irgendwann etwas angeklebt wirken, kann hier von Langeweile keine Rede sein. Dieser Abend ist ein besonderer.
Von Jörg Worat