Hannover: "Ensemble Nights" vom Staatsschaupiel

Stillstand, Umbruch, Leere und Unbestimmtheit: Bei den „Ensemble Nights: Die halbe Stunde & Not all men“ geht es ums „Nichts“. Und das liefert genug Stoff für den zweigeteilten literarischen und musikalischen Abend. Drei Sessel, eine Meinung. Mathias Max Herrmann macht den Anfang und stellt das frischgefertigte Vorabexemplar von Muriel Tesmans „Die Umschiffung des Nichts“ nebst Iris Berben-Hörbuchfassung vor. Die Autorin ist verhindert und auch Ensemblekollege Philippe Goos ist kurzfristig ausgefallen, sodass Herrmann die halbe Stunde allein bestreiten muss. In diesem Absatz verstecken sich jedoch einige Fehler. Buch, Autorin und Berben-Lesefassung gibt es gar nicht. Nur die Tatsache, dass Goos der Theaterliteratenrunde nicht beiwohnen kann, ist korrekt. „Ich vertrete mich eigentlich selber, ich bin nicht da…“, beginnt Mathias Max Herrmann seine Moderationsimpro, die er zugleich als Abmoderation einstuft. „Was ist das Nichts?“ Herrmann begibt sich alleine auf Erklärungssuche und Interpretationstopfschlagen. Immer wieder blättert er sich durch den dicken fiktiven Theater-Wälzer auf der Suche nach den passenden Zitaten, verzettelt sich mit wirr-absurden Beschreibungen von „Camera Obscura“-Abbildungen und wiederholtem Herumkauen auf inhaltlichen Schiffbruchvergleichen. Sein Auftreten dabei: gespielte Fahrigkeit, Ironiespritzer und herrlich angetölpelte Lässigkeit. Damit der fiktive Fachliteraturausflug perfekt ist, gibt es Fake-Rezensionen von Ullrich Wickert und Co. oben drauf. Die einen lässt die kurze literarische Solorunde mit einem breiten Schmunzler, die anderen mit dem Gefühl der umfangreichen Nachsortierung zurück, denn nicht alle enttarnen das vorgestellte Werk und die „Performance“ Mathias Max Herrmanns als Fake. Musiker Justus Wilcken, unter anderem für die Musik des Spielzeit-Openers „Zeit aus den Fugen“ verantwortlich, beginnt bereits bei Herrmanns Resümee mit dem Aufbau der Gitarren-, Loop-Station- und Mikrofontechnik. Gemeinsam mit Schauspieler Mohamed Achour bildet er gedanklich, gesanglich und musikalisch das aktuelle Zeitgeschehen ab. Ein Liederabend mit offensichtlichem und verstecktem Tiefgang. Es werden mal nachdenkliche, mal wütende, mal augenzwinkernde Töne angeschlagen. Mal ganz leise, mal polternd oder ekstatisch. Von Russ‘ zornigem „Do It Myself“ über „Abendland“ von Yassin, in dem Achour die diffuse Angst als Mann mit Migrationshintergrund thematisiert, bis hin zur selbsternannten „Corona-Tetralogie“ mit eigenen Songbeiträgen zur Pandemie und Coverversionen. Achours Verlesen von Horst Seehofers „taz“-Pressemitteilung und der anschließenden Interpretation von Body Counts empört-aggressiven „Cop Killer“ streut Salz in die frischen „Black Live Matters“-Wunden und ist emotionales Highlight des Abends. Von Aline Westphal