Das große „Rauschen“ in der Kestnergesellschaft

Winzige Vögel und gewaltige Schöpfungsmythen, hannoversche und deutsche Geschichte eingefräst in Kupfer und zeitgemäßes Kunst-Handwerk: Die Kestnergesellschaft legt für dieses Jahr ein ebenso spannendes wie facettenreiches Programm vor mit Künstlern wie Katinka Bock, Jean-Luc Mylayne, Camille Henrot und Susan Hiller. Die Programm-Präsentation fand diesmal ohne Direktor statt, Christina Végh ist bereits in Bielefeld, ihr Posten soll bis zum Herbst wieder besetzt sein, schätzt Kestner-Vorsitzender Hinrich Holm. Die Ausschreibung läuft, die eingegangenen Bewerbungen sind „äußerst viel versprechend“. Über die Zahl der Kandidaten wollte man nicht so gerne sprechen, der Radius umfasse aber „alle fünf Kontinente“. Eine internationale Ausrichtung sei für die Kestnergesellschaft natürlich wichtig, nötig sei allerdings eine umfassende Deutschsprachigkeit, wichtig wegen der auch lokal bezogenen Ausrichtung von Kestner. Im März soll sich eine Kommission zusammenfinden aus dem Kestner-Vorstand und Experten aus Deutschland. Im vergangenen Jahr hatte die Kestnergesellschaft 19.000 Besucher, eine kleines Minus im Vergleich zum Vorjahr (20.000). In diesem Jahr soll es wieder aufwärts gehen, auch mithilfe der neuen Geschäftsführerin und Mairi-Kroll-Nachfolgerin Claudia Beißner, die einen Schwerpunkt ihrer Tätigkeit im verstärkten Marketing sieht. Sie war jahrelang Geschäftsführerin einer mittelständischen Werbeagentur. Publikum ziehen soll natürlich auch das attraktive Ausstellungsprogramm mit der Schau „Rauschen“ von Katinka Bock als Highlight des Jahres. Die deutsch-französische Künstlerin nimmt auf ganz besondere Weise Bezug auf die deutsche und im speziellen hannoversche Geschichte, indem sie aus dem ehemaligen Kupferdach des Anzeiger-Hochhauses eine atemberaubende, gigantische Skulptur geschaffen hat, die bereits erfolgreich in Paris präsentiert wurde und ab 6. März in der Kestnergesellschaft zu sehen ist: In Form einer neun Meter hohen/langen amorphen Figur kehren die Kupferplatten an ihren Ursprungsort zurück. Gleichzeitig wird die Künstlerin das Anzeiger-Hochhaus in ihre Ausstellung miteinbeziehen und in der dortigen Bel Etage, dem Konferenzraum, eine ihrer Skulpturen zeigen – und andersherum den dortigen Konferenztisch als Sockel in der Kestnergesellschaft nutzen. Parallel dazu wird (ebenfalls bis 17. Mai) der „Herbst im Paradies“ beschworen – mit der ersten institutionellen Einzelausstellung von Jean-Luc Mylayne in Deutschland. Der 73-jährige Franzose stellt Vögel in den Mittelpunkt seines Schaffens, fotografiert sie auf eine ganz besondere Art, indem er teilweise über Monate eine Art Vertrauen aufbaut, Flugbahnen und Rastplatz erkundet und dann auf die Ankunft des Vogels an dem möglichen Ort wartet, den der Fotograf mit seiner Kamera schon lange vorausgesehen hat. Wie Kunst und Handwerk zum Kunst-Handwerk werden: Künstler wie Haegue Yang, Johannes Schweiger, Jorge Pardo und Slavs and Tatars erkunden vom 13. Juni bis 13. September (kunst)handwerkliche Verfahren, verbinden sie mit volkstümlichen und anderen Traditionen und beziehen alles auch auf zeitgenössische und technologische Diskurse. Mit dabei sind Künstler, die bereits bei „Made in Germany“ präsentiert wurden. Den ganz großen Bogen schlägt vom 16. Oktober bis 17. Januar Camille Henrot in einer umfassenden Einzelausstellung: Schöpfungsmythen, Big-Bang-Theory und Chaos-Theorie verknüpft sie mit anderen historischen und literarischen Quellen, persönlichen Erfahrungen und beliebigen Fundstücken aus dem Netz. Bekannt geworden ist sie durch ihre Videoarbeit „Grosse Fatigue“ auf der Venedig-Biennale, in der es in 13 Minuten um nichts weniger als die Geschichte des Universums geht. Dazu passt im gleichen Zeitraum „Lost and Found“ von Susan Hiller, die sich in ihrer Kunst mit ausgestorbenen oder im Aussterben begriffenen Sprachen beschäftigt. Und dann noch ein schöner Erfolg für die Kestnergesellschaft: Die hat von der Kulturstiftung des Bundes für neue digitale Strategien 250.000 Euro erhalten. Im Verbund mit dem Marta Herford, dem Museum Siegen und der HafenCity Hamburg flossen insgesamt eine Million.für das gemeinsame Projekt „Offene Welten – digitale Parcours durch die Räume unserer Zeit“. Von Henning Queren

Ausstellungsprogramm für 2020 - Das große „Rauschen“ in der Kestnergesellschaft