Jahresbilanz: Dietmar Wischmeyer löscht 2020

2020? Will er einfach nur vergessen – Satiriker Dietmar Wischmeyer (63) zieht im NP-Interview Bilanz eines verunglückten Jahres. Beginnen wir doch mit dem Einfachen: das Jahr 2020 in einem Satz? Das Jahr habe ich schon gelöscht. Einfach so? Ja, es gibt ein paar ganz hervorragende Bücher – die leider alle nicht stimmen – von einem Historiker namens Heribert Illig, der behauptet, die Zeit Karls des Großen habe man einfach übersprungen. Was es aber tatsächlich gibt, ist der Übergang vom julianischen zum gregorianischen Kalender; da hat man zehn Tage übersprungen. Es geht technisch: Wir können 2020 einfach löschen. Dahinter steht aber die Hoffnung, dass 2021 besser werden könnte. Das ist der Haken, ja: wenn man noch ein weiteres Jahr löschen muss. Und es sieht ganz so aus, als müsse man das mindestens mit der ersten Hälfte tun. Lesen Sie hier: Der NP-Jahresrückblick Kultur „Es war eine ganz, ganz andere Welt“: Man neigt bei Rückblicken dazu, 2020 erst ab März zu bewerten ... Ja, im März ist es losgegangen. Was davor passierte, erscheint mir inzwischen wie aus der Zwischeneiszeit. Das ist so weit weg. Es war eine ganz, ganz andere Welt. Wir haben uns mit Freunden getroffen, in der Kneipe gesessen, viel Spaß gehabt. Es war eine soziale Welt und nicht eine der Eremiten, die alle vor sich hin vegetieren. Auf die soziale Welt folgte eine asoziale? Der Begriff „asozial“ ist ein bisschen übel beleumundet: Er bedeutet im landläufigen Verständnis ja nicht „nicht sozial“, sondern beschreibt eher eine Art soziale Engstirnigkeit, Doofheit und Versifftheit. Auch Asoziale sind ja sozial, bloß auf eine unangenehme Weise. Die Befürchtung ist, dass wir uns entsozialisieren. Der Einzelhandel wird nicht mehr sein, was er vorher war. Konzerte, Theater, auch mein Gebiet: Veranstaltungen werden nicht mehr sein, was sie mal waren. Vielleicht gewöhnen sich die Leute daran, dass sie das ein Jahr nicht hatten: Es gibt ja ohne Ende kostenloses Streaming; man kann sich alles ins Haus holen und muss es gar nicht mehr verlassen. Lesen Sie hier: Max Mutzke: „Die Kultur hat keine Lobby“ „Viele Kollegen gehen völlig leer aus“: Aber hat das nicht nachgelassen nach dem ersten Lockdown? Ich habe leider keine validen Zahlen darüber, ob sich die Bezahlschranke im Streaming wirklich lukrativ durchsetzen konnte. Ich fürchte, nein. Wenn ich in Hannover auftrete, habe ich an dem Abend vielleicht drei, vier Konkurrenten aus meinem Segment. In kleineren Städten bin ich an diesem Abend wahrscheinlich der einzige, der dieses Produkt anbietet. Biete ich dieses Produkt im Netz an, bin ich eins von 50.000 ähnlichen Angeboten und trete in Konkurrenz zum Fernsehen, zu Serien, Dokumentationen, zu allem möglichen Kram. Und in der Regel verdiene ich nichts. Wenn ich mir meine jährliche Spotify-Abrechnung anschaue, sind das vielleicht 36 Cent Jahreserlöse. Es ist absurd. Leider tut die Politik wirklich nichts. *5. März 1957 in Oberholsten. Dietmar Wischmeyer bereitete sich mit einem Studium der Philosophie und Literaturwissenschaften auf seine heutige Tätigkeit vor, die er als „Humorfacharbeiter“ bezeichnet. Bekannt wurde er als Mitglied des ffn-Frühstyxradios. Heute gehört er zum Team der „heute-show“ des ZDF, schreibt Kolumnen und Bücher (zuletzt „Günther – Aufgewachsen unter Niedersachsen“) und hat zusammen mit der Unternehmerin Tina Voß bei Bremen Zwei die Radiosendung „Wischmeyers Stundenhotel“. Der Satiriker lebt in Niedernwöhren im Schaumburger Land. Ist das so? Wenn ich mir die EU-Richtlinien zum Urheberrecht ansehe, bekomme ich das Kotzen. Daran müsste man etwas ändern, wenn es die Politik ernst meint. Und dann diese Pseudo-Novemberhilfen, die übrigens nicht ankommen. Weil es eine neue Regelung gibt, dass man mindestens 80 Prozent mit Auftritten verdient haben muss. Leute wie ich, die auch fürs Fernsehen oder Radio arbeiten, kommen da sowieso nicht hin, aber auch Leute, die fast ausschließlich in dem Bereich arbeiten, haben vielleicht in dem Jahr mal keine große Tournee gemacht oder Tantiemen ihrer letzten Veröffentlichung kassiert. Wenn die dann nur auf 79,9 Prozent kommen, bekommen die gar nichts. Viele Kollegen gehen völlig leer aus, und das ist die große Sauerei. Lesen Sie hier: Christian Ehring: „Die Kultur stirbt einen stillen Tod“ „Da läuft die große Grenze“: Was tun? Künstlern kann man am besten dadurch helfen, dass man ihnen erlaubt, ihre Arbeit zu verrichten. In diesem Fall heißt das: Es wäre schön, wenn sie beim Online-Verbreiten ihrer Kunst nicht komplett am Nasenring durch die Manege geführt werden würden. Eine Branche braucht Hilfe, die jahrelang ohne Probleme durchgekommen ist ...... nicht nur durchgekommen ist, sondern auch Steuern gezahlt hat und das nicht zu knapp. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich habe die große Befürchtung, dass nur die Subventionskultur überlebt. Neulich haben 200 Leute vom Niedersächsischen Staatstheater demonstriert – da sind 200 Leute beschäftigt? Alter! Um genau zu sein: Es sind ungefähr 1000, von denen 200 demonstriert haben. Ich fasse es nicht! Da fällt mir der alte Spruch von Wiglaf Droste ein: Wenn Sie mal einen Verwandten vermissen, gucken Sie doch mal im Keller vom Staatstheater nach. Da läuft die große Grenze: Entweder, man hat einen Gehaltsjob; dann kann einem nicht groß etwas passieren, so lange der Staat nicht pleite ist, aber das kann auch noch kommen. Oder man ist freiberuflich tätig; dann ist man am Arsch. Lesen Sie hier: Schauspiel-Intendantin Sonja Anders über den anhaltenden Lockdown „Die AfD zerlegt sich im großen Stile selbst“: Lassen Sie uns über andere Aspekte von 2020 reden, zum Beispiel jene Partei, die ziemlich schnell von „Die Flüchtlinge sind an allem schuld“ zu „Die Virologen sind an allem schuld“ gewechselt ist. Und wenn Corona vorbei ist, werden die sich schnell das nächste Thema suchen. Das Positive: Auch die AfD zerlegt sich im großen Stile selbst, wie alle ihre Vorgänger, Republikaner, DVU, NPD sowieso. In der Selbstzerfleischung sind die Weltmeister. Und dieses Themenhopping, das sie betreiben, führt nicht unbedingt zu einer Stringenz in der Wählerschaft. Wobei ich nicht glaube, dass es sich komplett erledigt – warum sollte Deutschland besser sein als die anderen europäischen Länder, die alle einen Bodensatz an 15 Prozent Bekloppten haben? Das ist einfach der Preis der Demokratie. Dann gab es noch die US-Wahl. Haben Sie damit gerechnet, dass doch noch so viele Menschen Trump wählen würden? Ja, sein größtes Wahlergebnis ... Das hätte man nicht gedacht – andererseits aber schon. Denn er bietet dem Wähler ein Produkt an, das der Wähler offensichtlich haben will, nämlich eine einfache Erklärung für alles. Und da die Welt immer komplexer wird und kein Mensch noch einen Überblick, geschweige denn einleuchtende Lösungen hat, zieht es die Menschen zu den einfachen Dingen. Und wenn es dann noch wie bei Trump in Richtung Nationalstolz geht, dahin, sich als Teil eines großen Ganzen zu fühlen und zugleich als Mitglied einer Gruppe, die das Wissen hat, funktioniert es eben. Mit Argumenten kommt man zu gar nichts. Aber war es nicht auch das Jahr der Satiriker? Die „heute-show“ zum Beispiel war erfolgreicher denn je. Die Leute lassen sich zunehmend die Welt erklären von den vermeintlichen Spaßmachern. Und das finde ich erschreckend. Dass sich die Leute die Welt von der „heute-show“ erklären lassen – um Gottes Willen! Das spricht in keiner Weise gegen die „heute-show“. Aber das ist und bleibt eine Satiresendung und nicht der Ersatz für die politische Bildung. Im besten Fall bringt sie die Leute dazu, mal genauer zu gucken, was passiert. Lesen Sie hier: „heute-show“: 2020 erfolgreiches Jahr für Satire-Sendung „Am Zugang zu Wissen und Bildung kann es nicht liegen“: Was würde denn helfen? Nichts. Es ist ja nicht so, dass uns in der Bundesrepublik der Weg zu Bildung, Bewusstsein und Wissen verstellt ist. Selbst wenn wir gar kein Geld haben, können wir immer noch umsonst Radio und Fernsehen nutzen. Da gibt es immer noch genug Hörens- und Sehenswertes. Stadtbibliotheken sind, wenn man kein Geld hat, umsonst. Am Zugang zu Wissen und Bildung kann es nicht liegen. Aber die Konkurrenz des Nichts-Wissen-Wollens ist einfach zu groß, die Lust, sich einlullen zu lassen und zu konsumieren. Das ist für mich einer der großen Widersprüche von 2020: Einerseits sollen wir weniger konsumieren, damit der Planet nicht in den Arsch geht. Andererseits sollen wir – verbreitet von allen Parteien bis zu den Grünen – mehr konsumieren, damit die Fußgängerzonen nicht in den Arsch gehen. Was denn jetzt? Gibt es irgendetwas, was Hoffnung macht? Hoffnung ist immer leicht zu haben, denn Hoffnung ist irreal. Sie muss sich nicht mit Argumenten beschäftigen. Was Hoffnung macht: dass das Verständnis für die doch recht großen Einschränkungen durch die Pandemie-Bekämpfung sehr groß ist. Ein gemeinsamer Feind, der auch noch unsichtbar ist, scheint bei einem Großteil der Bevölkerung doch eine gewisse Solidarität zu erzeugen. Natürlich ist immer die schlechte Nachricht die gute Nachricht, und wenn sich bei einer Party in Berlin-Neukölln 20 Leute ohne Maske besoffen haben, ist das die Meganachricht. Aber keine Nachricht ist es, wenn 81 Millionen andere Menschen keine Party gemacht haben. Zum großen Teil verhalten sich die Menschen anständig und verantwortungsbewusst. Von Stefan Gohlisch