Drei Stunden für ein Multitalent

Dieser Performance-Abend hat es in sich: „Endless Poetry oder Die heilige Familie“ – die Commedia Futura hat sich für ihr multimediales Projekt von dem Chilenen Alejandro Jodorowsky und seinem esoterisch-surrealen Denken inspirieren lassen - und sein komplexes persönliches Universum mit dem Thema „Familie“ spannungsvoll verflochten. 21 Akteure entwickelten gemeinsam das Konzept für mehrere Bühnen und in diverse Räume innerhalb der Eisfabrik, um dem Multitalent gerecht zu werden: Jodorowsky ist Regisseur, Filme- und Theatermacher, Schauspieler, Produzent, Komponist, Dramatiker, Schriftsteller, Comicautor sowie Begründer der sogenannten „Psychomagie“. Ab in die Themenräume: Insbesondere Jodorowskys stark autobiografisch geprägten Werke, sein Roman „Wo ein Vogel am Schönsten singt“ (1992) und sein jüngster Film „Endless Poetry“/“Poesía sin fin“ (2016)“, waren für Regisseur Wolfgang. A. Piontek Inspirationsquellen für die dreistündige Vorstellung. Ruhig und surreal geht es los: Apathisch wirkendende Servicekräfte tragen große Plastiktorten herum. Eine Bäckerin und junge Kellnerinnen flüstern den Gästen geheimnisvolle Sätze ins Ohr (zum Beispiel: „Ich bin ein Spiegel, der nur noch Dich reflektiert“). Ein Mann (Peter Piontek) schreibt Worte auf Papierbögen und legt sie auf dem Boden aus. Auch eine Tarot-Karte sollen die Gäste ziehen. Dann wird das Publikum in vier Gruppen eingeteilt. Wobei jede in einen der vier Themen-Räume geführt wird. Im „Poetry“-Raum soll die Gruppe aus vorbereiteten Papierschnipsel-Satzfragmenten Gedichte erstellen. Es kommen erstaunliche dadaistische und poetische Werke heraus, die teilweise vorgelesen werden. Lächelnde Gesichter. Wo die Seele singt: Weiter geht es in den „Die Seele singt“-Raum in der Zentralhalle. Auf einem der mittig aufgestellten Holzstühle sitzt Sängerin Anke Hachfeld. Im Halbkreis um sie herum nehmen die Gäste Platz. Wer möchte, setzt sich ihr gegenüber und wird, mittels textfreier Gesangsimprovisation, individuell von ihr besungen. Faszinierend, wie sie intuitiv Melodien, Laute und Dynamik entwickelt, abgestimmt auf die vor ihr sitzende Person, mal kontemplativ, soulig, jazzig, lautmalerisch. Nur zwei von vier Themen-Räumen erlebt jeder Gast. Die Gruppen vereinigen sich dann im Schwarzen Saal, in dem es um den „Gedanken der Vergangenheit“ geht: um den Umgang mit ihr. Dabei wird per Video der weit verzweigte Jodorowsky-Stammbaum vorgestellt. Die Abnabelung des Künstlers: Dann geht es in die Zentralhalle zur Theater-Performance, und alle tauchen tief ein in den real-imaginären-surrealen Jodorowsky-Kosmos. Das Schauspiel ist reich an Szenenwechseln und stilistischen Brüchen, wie Jodorowskys Filme. Das Ganze zirkuliert um seine Auseinandersetzung mit dem jähzornigen, zur Brutalität und zum Sadismus neigenden Vater und die Abnabelung des Künstlers. Surreale, sinnliche, groteske und auch verstörende Szenen sind das. Da hält man die Luft an. Horcht auf beim Familienschicksal (Tod des Erstgeborenen, des Bruders), oder wenn die Mutter, Gebete sprechend, monoton im Kreis läuft. Schmunzelt, wenn eine Expedition aus dem Kühlschrank kriecht oder die Akteure die dressierten Raubtiere im Zirkus spielen. Am Ende: Stille und Durchatmen nach diesem packenden Theater-Marathon, bei dem das Publikum auf angenehme Art und Weise eingebunden ist. Dann fünf Minuten kräftiger Jubel-Applaus. Nur jeweils 48 Zuschauer können die Aufführung besuchen, rechtzeitige Reservierung wird empfohlen! Weitere Termine finden Sie hier. Von Christian Seibt

Performance - Drei Stunden für ein Multitalent