NS-Studie: So braun war Hannovers Universität noch nach dem Krieg

„Beispiellose Leistungen“ habe die Eisenbahn im Zweiten Weltkrieg vollbracht, schwärmte der Bauingenieur Erwin Massute 1956 in der Festschrift zum 125-Jährigen Bestehen der Technischen Hochschule Hannover. Der Professor musste wissen, wovon er sprach. Er war Oberbetriebsleiter bei der Ostbahn mit Sitz in Krakau gewesen, die für den Transport von Millionen Juden in Vernichtungslager wie Auschwitz-Birkenau, Treblinka, Sobibor oder Belzec zuständig war. Massutes Karriere an der Hochschule stand seine Verstrickung in die NS-Verbrechen jedoch nicht im Wege. Er ist damit kein Einzelfall. Im Gegenteil. „Die NS-Belastung war nach 1945 höher als vor 1945“, berichtete der Historiker Michael Jung am Mittwoch bei der Vorstellung seines Buches „Eine neue Zeit. Ein neuer Geist?“, das sich mit der Verstrickung der Professoren der späteren Leibniz Universität auseinandersetzt. Ein Novum in der deutschen Hochschullandschaft. Es ist die erste Studie, die auch das Personal nach 1945 in den Blick nimmt. 2016 hatte die Uni bereits eine Untersuchung für die Jahre 1933 bis 1945 vorgelegt. Historiker untersucht NS-Geschichte von 326 Professoren: Jung, der im Auftrag des Präsidiums die Biographien von 326 Professoren untersucht hat, die spätestens 1927 geboren sind und alle an der Universität Hannover und ihren Vorgängerinstitutionen nach 1945 beschäftigt waren, kommt darin beispielsweise zu dem Ergebnis, dass von 20 Rektoren der Nachkriegszeit nur drei nicht Mitglied einer NS-Organisation waren. Besonders genau hat sich der Historiker die Lebensläufe des Uni-Führungspersonals angeschaut, das im Senat vertreten war und dafür in 20 Archiven im In- und Ausland geforscht. Er stuft 39 Prozent der Senatsmitglieder als „substanziell belastet“ ein, weitere 19 Prozent als „formal belastet“. Das heißt, sie waren zwar Mitglied in Parteiorganisationen, nahmen jedoch keine Führungsfunktion war und waren auch nicht propagandistisch im Sinne der NS-Ideologie aktiv, anders als die „substanziell belasteten“ Personen. Zehn Persilscheine, um sich reinzuwaschen: Nach dem Krieg wollten die im Nationalsozialismus verstrickten Professoren von dieser Vergangenheit nichts mehr wissen. Der Eisenbahn-Experte Massute, von 1949 bis 1966 Professor für Verkehrswesen, Eisenbahnbau und -betrieb an der TH Hannover, gibt ein typisches Beispiel für die Strategien, die diese wählten, um sich reinzuwaschen. In seinem Entnazifizierungsfragebogen behauptete der Bauingenieur, er sei als SA-Mann in die NSDAP aufgenommen worden, ohne dass es dafür eines Antrags seinerseits bedurft hätte. Eine Lüge. Es sei immer ein eigenhändig unterschriebener Fragebogen notwendig gewesen, um in die Partei aufgenommen zu werden, stellt Jung klar. Massute zeigte sich auch besonders fleißig im Sammeln von sogenannten Persilscheinen, mit denen NS-Verstrickte sich durch Aussagen anderer Personen vom Vorwurf einer nationalsozialistischen Gesinnung freizusprechen versuchten. Gleich zehn davon legte Massute im Entnazifizierungsverfahren vor und kündigte an, „auf Wunsch noch weitere Zeugnisse ähnlichen Inhalts“ besorgen zu können. Führender NS-Rassentheoretiker darf in Hannover lehren: Doch sogar Lothar Loeffler, der schon vor 1933 der NSDAP beigetreten war, gelang die Rückkehr in den Universitätsdienst. Er war von 1934 bis 1942 Professor für Rassenbiologie und Direktor des gleichnamigen Instituts an der Universität Königsberg, von 1942 bis 1945 in gleicher Funktion an der Universität Wien tätig. Loeffler war ärztlicher Beisitzer in Erbgesundheitsgerichten, die auch über Zwangssterilisationen entschieden. „Er war einer der führenden Rassentheoretiker in der NS-Zeit“, erklärt Jung. 1942 sorgte Loeffler dafür, dass ein Mitarbeiter verbrecherische Menschenversuche an Kriegsgefangen in Frankreich durchführen konnte. An der TH Hannover durfte er 1954 ausgerechnet einen Lehrauftrag für Sozialbiologie übernehmen. Damit habe die Uni „überhaupt kein Problem“ gehabt, so Jung. Von 1968 bis 1972 war Loeffler noch Lehrbeauftragter für Humangenetik an der Medizinischen Hochschule Hannover. Obwohl sie sich nach dem Krieg gerne als unpolitische Technokraten gaben, war laut dem Historiker Jung die NS-Belastung unter den Maschinenbauern und Elektrotechnikern besonders groß. Unter den Fakultäten sei ihre sowohl vor als auch nach 1945 die mit der höchsten NS-Belastung gewesen. In seiner neuen Studie kommt Jung auf einen Anteil von „fast 75 Prozent“. Treue zu Hitler bis zum Schluss: Ein besonders glühender Nationalsozialist war Werner Osenberg. Er war Leiter des Planungsamtes des Reichsforschungsrates, brachte es in der Reiter-SS bis zum Hauptscharführer und arbeitete außerdem für Heinrich Himmlers Gestapo. Hitler zeichnete Osenberg im September 1944 mit dem Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse aus. Und der dankte mit treuer Ergebenheit bis zum Schluss. Noch am 21. Januar 1945, als der Krieg längst verloren war, schickte Osenberg ein Schreiben an Hitler, das „kriegsentscheidende“ Maßnahmen zur „wirksamen“ Bekämpfung von feindlichen Flugzeugen und Bomberverbänden präsentierte, die „nur über ein von Ihnen, mein Führer“, befohlenes Programm so schnell zu realisieren seien, dass in absehbarer Zeit mit einer Veränderung der Luftkriegslage gerechnet werden könne. Gemeint war das Raketen-Mehrfachgeschoss Planet, das zur Bomberabwehr gedacht war, allerdings nicht mehr zum Einsatz kam. Jung sieht in Osenberg einen „fanatischen NS-Parteigänger bis zu den letzten Zuckungen des NS-Regimes“. In der NS-Zeit hatte es Osenberg bis zum Prorektor gebracht. Nach dem Krieg durfte er 1954 an der TH den Lehrstuhl für Fertigungstechnik und Werkzeugmaschinen übernehmen. 1970 wurde der Wissenschaftler emeritiert. Lesen Sie auch: Die Suche nach den kleinen Nazis in Hannover NS-Vergangenheit: Hannovers Rat gibt kein Geld für Arthur Menges Grab 8. Mai 1945 Hannover: Befreit in einer zerstörten Stadt Der Historiker Jung räumt ein, dass es „nicht einfach“ gewesen sei, unbelastete Wissenschaftler zu bekommen. Die TH Hannover habe sich darum allerdings auch „überhaupt nicht gekümmert“. Ohne Schwierigkeiten seien „hochbelastete Personen auf Lehrstühle gehievt worden“. Eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit der Hochschule und ihres Personals habe damals „überhaupt nicht stattgefunden“. Das sei für ihn das „erschreckendste Ergebnis“ seiner Studie, sagt Jung. Von Christian Bohnenkamp