NP-Jahresrückblick: Die Kultur in der Coronakrise

Wahrscheinlich wird der 28. Oktober in die Geschichte eingehen, als Tag, an dem ein Jahr der Versuche und Irrtümer seinen Höhepunkt fand und das Unverständnis zwischen Politik und Kultur seinen Gipfel. Nicht wegen des glücklosen „Lockdown light“, der verkündet wurde, sondern wegen der Wortwahl dabei. Lesen Sie hier: Sascha Korf: „Ich empfinde uns als Bauernopfer“ „Institutionen und Einrichtungen, die der Freizeitgestaltung zuzuordnen sind, werden geschlossen“, hieß es seitens der Bundesregierung: „Dazu gehören unter anderem Theater, Kinos, Freizeitparks, Spielhallen, Bordelle, Fitnessstudios und ähnliche Einrichtungen“ – ein Affront: Die Pandemie und der politische Umgang damit hatten Kulturschaffenden schon die Lebensgrundlage und den Lebenssinn genommen, nicht aber das Selbstverständnis, ein wichtiger Teil dieser Gesellschaft zu sein, der eben nicht nur für Unterhaltung gut ist, sondern auch für Bildung und geistigen Mehrwert. Lesen Sie hier: Die Kultur steht wieder still Wenige achtlose Worte reihten nun die Kultur als verzichtbaren Jux ein zwischen Puff und Muckibude. „Das war schon eine Kränkung“, sagt Hannovers Schauspiel-Intendantin Sonja Anders später im NP-Interview zum Jahresende. Die Kultur wird stillgelegt: Lange Monate hatte man die Entscheidungen zum Infektionsschutz ohne Murren mitgetragen: Als erst – beginnend im März mit James Blunt – die großen Konzerte abgesagt und immer wieder verschoben wurden und dann auch alle anderen. Als die Museen, Theater und Kinos schließen mussten. Als ein Hilfsprogramm nach dem nächsten aufgelegt wurde und an der Realität der Branche vorbeiging. Lesen Sie hier: Eine Comedy-Mixshow in traurigen Zeiten Man hatte bei den ersten Paketen, ob aus Unkenntnis oder Ignoranz, schlicht vergessen, dass die Soloselbstständigen der Branche zwar Nahrung und ein Dach über dem Kopf brauchen, nicht aber Dienstwagen und Büro, die abgedeckt gewesen wären, im Gegensatz zu Lebenshaltungskosten. Immerhin: Die neuen „November-Hilfen“ orientieren sich am Bedarf. Vermutlich bis Mitte Januar sollen sie dann auch mal fließen. Lesen Sie hier: Christian Ehring: „Die Kultur stirbt einen stillen Tod“ Es hätte ein großes Jahr für Hannovers Kultur werden können: mit Open-Air-Konzerten von Paul McCartney bis AnnenMayKantereit, mit der Ehrung des „Opernhauses des Jahres“ und der „Faust“-Verleihung im Schauspielhaus, mit der Bewerbung zur Kulturhauptstadt, die zwar vermutlich auch in pandemiefreien Zeiten gescheitert wäre, aber viel kreative Energie in der Szene freisetzte. Viel Energie und wenig Einnahmen: Die zeigte sich, als wieder etwas ging: Die Kulturschaffenden investierten viel Energie, um aus der Situation das Beste zu machen, und auch viel Geld, um diese bei Einhaltung aller Hygienebestimmungen umzusetzen. Hannover Concerts organisierte die „Autokultur“ auf dem Schützenplatz. Im Sommer waren dann auch erste richtige Konzerte wieder möglich, mit viel Abstand und wenig Ertrag. Neue Theaterformate wurden ausprobiert. Das Team Kultur der Region nutzte – vom Kultursommer bis zum Entdeckertag – jede Möglichkeit, Kulturtreibende in Lohn und Brot zu bringen. Die Stadt realisierte das „Theater für Hannover“ im Pavillon, damit kleinere Bühnen wenigstens ein paar ihrer Shows abspielen konnten. Lesen Sie hier: Theater an der Glocksee startet „Plantkingdom“ Geld brachte das selten ein, aber man zeigte immerhin, dass man da war. Dann der neuerliche Lockdown, der die Kultur zum Erliegen brachte, und großer Frust. Die Proteste nahmen zu. Verbände von Museen und Theatern verwiesen zunehmend deutlich auf ihren gesellschaftlichen Bildungsauftrag. Lesen Sie hier: Landesmuseum-Direktorin Lembke über Last und Lehren aus der Pandemie Die Aussichten sind trübe: Die Aussichten? Trübe. Man ahnt, dass am Ende der Krise die Kultur der letzte Bereich des gesellschaftlichen Lebens ist, der wieder komplett hochgefahren wird – und der erste, an dem zu erwartende Sparrunden ansetzen werden. Dabei hat Corona gerade hier wie ein Brennglas funktioniert, hat gezeigt, unter welch prekären Bedingungen Kultur entsteht, wie schnell sie den Mechanismen des Marktes geopfert wird und wie sehr man sie braucht für den gesellschaftlichen Diskurs. In einem der Formate, die im Lockdown entstanden, dem Online-Adventskalender der Website „nachtkritik.de“, zitierte Caroline Junghanns, Mitglied des hannoverschen Schauspiel-Ensembles, das Gedicht „Wo lernen wir“ von Erich Fried: „Wo lernen wir/uns gegen die Wirklichkeit wehren/die uns um unsere Freiheit/betrügen will/und wo lernen wir träumen/und wach sein für unsere Träume/damit etwas von ihnen/unsere Wirklichkeit wird?“ Man darf bange auf die Antworten warten. Lesen Sie auch Hannover: So hart kämpfen Gastronomen Kliniken in der Coronakrise: „Die Pandemie ist ein Langstreckenlauf“ Corona 2020: Hannovers Gesundheitsamt am Limit Jahresrückblick: Corona und die Folgen für Hannovers Schulen Bildungsexperte zu Schulausfällen: Die Kinder haben vieles verlernt Von Stefan Gohlisch