„Man braucht Hoffnung und Humor“: So leidet ein Fan im 96-Seuchenjahr

Wer 2019 wie Tobias Rieger 21 Spiele von Hannover 96 live im Stadion miterlebt hat, den kann so schnell nichts erschüttern. „Man braucht vor allem zwei Dinge: Humor und Hoffnung“, sagt das Urgestein der Fanszene. Beides hat er auch in einem Jahr voller Pleiten, Pech und Pannen nicht verloren. An den 10. März kann sich Rieger noch gut erinnern, an diesen verschneiten Sonntagabend in der HDI-Arena: Beim Stand von 0:2 gegen Leverkusen geht 96-Spieler Genki Haraguchi am gegnerischen Torwart vorbei und muss den Ball nur noch ins leere Tor schieben. Doch auf dem schneebedeckten Rasen trudelt das Leder langsam aus und bleibt unmittelbar vor der Linie liegen. „Das war schon Slapstick“, kann der 37-Jährige heute über die Szene schmunzeln, die beispielhaft für das verkorkste Jahr der Roten steht. 96 von allen guten Fußball-Geistern verlassen – bittere Momente gab es 2019 noch einige mehr. Persönlicher Tiefpunkt: Auswärtsspiel am 3. März: Riegers persönlicher Tiefpunkt war das Auswärtsspiel am 3. März beim VfB Stuttgart, damals noch mitten im Abstiegskampf der 1. Bundesliga. „Ich wollte erst gar nicht mitfahren, aber ein Kumpel hat mich dann doch noch überredet“, blickt er zurück. Und so musste Rieger zwischen zwei rund fünfstündigen Zugfahrten mit ansehen, wie sein Verein beim Mitkonkurrenten sang- und klanglos mit 1:5 unterging. „Das hat richtig wehgetan. Da war für mich dann auch endgültig klar, dass der Abstieg besiegelt ist.“ 18 sieglose Auswärtsfahrten am Stück: Überhaupt standen Auswärtsfahrten für den 37-Jährigen lange Zeit unter keinem guten Stern. In 18 Spielen am Stück sah er auf fremden Plätzen keinen einzigen Sieg. 833 Tage hielt die Pechsträhne an, ehe am 30. November ein 1:0 bei St. Pauli Riegers Auswärtsfluch beendete. „Das Spiel war aus fußballerischer Sicht zwar gruselig, aber rückblickend wohl trotzdem mein Highlight des Jahres. Das sagt eigentlich schon alles“, so der Südstädter schmunzelnd. An eine Zeit ohne 96 kann sich das Urgestein der Fanszene kaum noch erinnern. „Ich war vielleicht sechs, sieben Jahre alt, als ich zum ersten Mal im Stadion war.“ Seitdem hat er viele Trainer kommen und gehen sehen – manche sogar zweimal. Mirko Slomka sollte nach dem Abstieg im Sommer eigentlich wieder Kurs Richtung 1. Liga nehmen, musste stattdessen aber im November schon wieder von Bord gehen. „Ich fand seine Verpflichtung damals gar nicht so schlecht – zu unrecht, wie ich heute zugeben muss“, flachst Rieger. Mit Galgenhumor blickt er auch auf das Engagement von Slomkas Vorgänger Thomas Doll zurück, das mit dem Abstieg endete. „Das war eine absurde Zeit“, sagt er kopfschüttelnd. „Legendäre Pressekonferenzen, großartige Auftritte – er hat sich in der relativ kurzen Zeit in Hannover unsterblich gemacht.“ Jetzt ruhen Riegers Hoffnungen auf Coach Kenan Kocak, trotz mittelmäßigem Start mit zwei Siegen und zwei Niederlagen und einem Unentschieden. „Er macht zumindest einen souveränen Eindruck, kommt sympathisch und ehrlich rüber.“ 2000 Follower bei Twitter: Gute Spiele, schlechte Spiele und alles, was es sonst noch so über 96 zu sagen gibt: Seine Meinung tut Rieger regelmäßig in den sozialen Medien kund. Bei Twitter hat er unter dem Namen „Runnertobi“ mittlerweile über 2000 Follower. Viele Fans der Roten kennen ihm zudem noch als Moderator des 96-Podcasts. Über sechs Jahre lang plauderte er vor jedem Spiel mit Journalisten, Fans und Experten über seinen Verein. „Dabei habe ich noch nicht mal eine Dauerkarte“, verrät er. „Trotzdem bin ich bei jedem Heimspiel im Stadion.“ Statt von einem Stammplatz aus verfolgt er die Spieler lieber aus wechselnden Blickwinkeln. „Ich habe in diesem Jahr schon auf allen vier Tribünen gesessen. Karten zu bekommen, ist in Hannover ja nicht so schwer“, sagt er und schiebt gleich noch einen ironischen Seitenhieb in Sachen Zuschauerschwund hinterher. „Ich sage es mal so: größer dürfte das Stadion nicht sein. Hannover haben eben ein schwieriges Publikum. „15.000 bis 20.000 Leute – das ist der harte Kern, der immer da ist und Gas gibt. Alle anderen kommen nur bei Erfolg“, kritisiert er das Anspruchsdenken vieler Fans. Ein Mittelfeldplatz in der 1. Bundesliga müsse es schon sein, am besten sogar international spielen – viele Anhänger würden noch in der Vergangenheit schwelgen. Die Gegenwart ist jedoch 2. Liga. Und mit jeder weiteren Saison im Fußball-Unterhaus werde es schwerer, die Massen zurück ins Stadion zu locken. „Schon allein deshalb, hoffe ich natürlich, dass es bald wieder hoch geht. Die 2. Liga ist nicht gut für 96. Der Verein verliert Geld, was dann bei der Mannschaft wieder eingespart wird. Das geht natürlich zu Lasten des sportliches Erfolgs.“ Nächste Fahrt ist schon gebucht: Auch abseits des Profifußballs hat Rieger eine klare Meinung zu 96. Nach der Mitgliederversammlung im März, die mit der Installierung eines neuen Aufsichtsrats und der Abwahl Martin Kinds als Präsident endete, sei wieder Ruhe im Verein eingekehrt – vorerst. Letztlich sei das Ende des Machtkampfs zwischen Kind und der Opposition aber nicht mehr als ein Burgfrieden. „Für mich sind das immer noch zwei Parteien, die eine gegensätzliche Idee von Fußball haben. Die müssen jetzt aber einen Konsens finden und gemeinsam gute Entscheidungen im Sinne des Vereins und der Profiabteilung treffen“, findet der 96-Fachmann. Pleiten, Pech und Pannen – aus Fan-Sicht geht für Rieger jedenfalls ein historisch schlechtes zu Ende. „2009 war mit dem Tod von Robert Enke das schlimmste Jahr, das ich und wohl alle 96-Fans je erlebt haben. Ansonsten kann ich mich aber an kein schlechteres erinnern“, sagt der 37-Jährige. Und trotzdem: Auch 2020 können die Roten wieder auf „Runnertobi“ zählen. „Die nächste Auswärtsfahrt ist schon gebucht, im Februar geht’s nach Fürth – mit Humor und Hoffnung.“ Lesen Sie auch: Jens Herrnberger – Klimaschützer mit Affenliebe Das macht Norbert Schu nach dem Verkauf der „Insel“ Jüdisches Leben in Hannover: „Halle hat alles verändert“ Zwischen Klassik und Twitter: Wie Igor Levit für neue Töne sorgte Von André Pichiri

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