„Kräftezehrend, absurd, existenzschädigend“: Wie Hannovers Sportvereine unter Corona leiden

Seit zwei Jahren ist Till Uhlig im Amt. Wenn man den Vorsitzenden der SpVg. Niedersachsen-Döhren fragt, welches von beiden das schönere Jahr war, überlegt er nicht lange. „2020 war unglaublich kräftezehrend für Körper und Geist. Das wird wohl jeder Sportvereinsvorsitzende so empfinden.“ Ein Verein – das impliziert der Begriff nun mal – vereint Menschen. Und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern meist auch physisch, auf dem Platz, in der Halle. Doch genau das war in 2020 oftmals Tabu. Abstand halten hieß die Devise. Einsames Jogging in der Eilenriede statt Kicken auf dem Platz, oder „pumpen“ im Fitnessstudio – so sah Sport in Hannover über weite Strecken aus. Ein Komplett-Lockdown im Frühjahr, einer seit dem Herbst. Und dazwischen Sport unter Auflagen. Corona hat Hannovers Sportlandschaft in 2020 massiv verändert. „Es ist nie schön für einen Verein, wenn du fast ein ganzes Jahr lang nur reagieren kannst. Reagieren musst auf Vorgaben und bei all den Regeln auch noch ein Angebot aufrecht erhalten willst“, blickt Uhlig zurück. Und dabei ging es dem 800 Mitglieder starkem Verein aus Hannovers Süden noch gut. Man hat zwar eine Tischtennis-Abteilung, die als Hallensport mitunter extrem eingeschränkt war. Bei einer breiten Fußball-Sparte mit allein 500 Mitgliedern, war zwischen den beiden Lockdown-Phasen an der frischen Luft aber vieles möglich. „Sportclubs, die vor allem für den Hallensport da sind, hatten da ganz andere Probleme“, weiß Uhlig. Kämpfe um Hallenzeiten: Weil die Hallen mehr gelüftet, früher geschlossen und generell weniger belegt werden konnten, kam es unter den Vereinen zu regelrechten Kämpfen um Hallenzeiten. Für den Turn-Klubb Hannover (TKH) mit gravierenden Folgen: Der Verein musste die Mädchen-Leistungsklasse der Rhythmischen Sportgymnastik ab Oktober komplett streichen. Doch seit November ist die „große Gleichheit“ bei den Vereinen wieder hergestellt: Egal ob draußen oder drinnen: Der gemeinsame Sportbetrieb liegt auf Eis. Es gilt erst der Lockdown light, dann der harte Shutdown. „Wir sind im Grunde wieder da, wo wir im Frühjahr waren“, kritisiert der Döhrener Uhlig. „Wir können eigentlich nichts anbieten.“ Mehr übergewichtige Kinder in Corona-Zeit: Ihm tue es vor allem leid für die kleinsten Fußballer bis zur D-Jugend, bis zwölf Jahre. „Wir reden mittlerweile über fünf Monate Ausbildungs- und Freizeitverlust.“ Auch hier sind die Folgen sichtbar: Laut einer Untersuchung der Region Hannover über den Einfluss von Corona hat sich die Feinmotorik der Kinder im Vergleich zu 2019 signifikant verschlechtert. 30 Prozent der Kinder hatten einen auffälligen Befund, auffällig sei auch die Zunahme des Anteils übergewichtiger Kinder in der Corona-Zeit. Besonders leiden würden aber auch die ältesten Mitglieder seines Vereins, findet Uhlig. Döhren habe immerhin 150 Mitglieder, die 65 und älter sind. Sie genießen die Gesellschaft: „Das Zusammensein, das miteinander Sprechen können. Viele unterschätzen genau diese ganz große Komponente des Sozialen. Die wurde in Sportvereinen gelebt – und muss wieder gelebt werden.“ Nicht ohne Ärger in der Stimme betont der Vorsitzende das. Denn am eigenen Hygiene-Konzept liegt es nicht: „Wir kamen gut vorbereitet, mit einem schlüssigen Konzept, aus dem ersten Lockdown, konnten früh loslegen“, sagt er. Mit messbarem Erfolg: Gerade mal vier Corona-Fälle gab es das ganze Jahr über in seinem Verein. Tanzschule: Viel investiert, wenig getanzt: Deutlich mehr Ärger in der Stimme hat Oliver Bothe, Geschäftsführer der Tanzschule Bothe. „Ein größeren Fehler als diesen Lockdown light im November hätte die Politik nicht begehen können“, ist seine Meinung. Dabei sei er alles andere als ein Corona-Leugner. „Mich hat es im März ja selbst erwischt.“ Zwei Wochen lag er flach, Lungenentzündung, Herzmuskelentzündung, Verlust der Geschmackswahrnehmung inklusive. „Das war kein Spaß. Deshalb würde ich die Krankheit nie auf die leichte Schulter nehmen“, betont er. Das hat er auch nach dem ersten Lockdown nicht. Im Gegenteil: Wie die meisten Unternehmen des kommerziellen Sports habe man viel investiert. „Be- und Entlüftungsanlagen mit Filtern in allen Tanzsälen, Fiebermessgeräte, digitale Erfassung eines jeden Kunden – das komplette Programm“, zählt Bothe auf. Ein Hygiene-Konzept das auch gegriffen habe. Nicht nur in der hannoverschen Tanzschule. „In allen rund 800 Tanzschulen in Deutschland hat es nicht einen Corona-Infektionsfall gegeben“, sagt der Tanzschulen-Chef. Der aktuelle Lockdown sei dagegen kontraproduktiv: „Gerade die jungen Leute würden nun in die Illegalität getrieben. „Sie treffen sich nun mangels Alternativen privat in Gruppen draußen – und dort natürlich unreguliert.“ Die bessere Maßnahme wäre es gewesen, den Status im Sommer weiter bis zum harten Lockdown beizubehalten, glaubt der Tanzlehrer. Sprich: Beschränkte Teilnehmerzahl und Abstände einhalten. Das habe wunderbar funktioniert, „Auch beim Paartanz, bei dem in der Regel mit dem Lebenspartner getanzt wird.“ Doch in der Light-Variante wurde mit zweierlei Maß gemessen. „Ballettschulen durften aufmachen, Volkshochschulen Tanz unterrichten – wir jedoch nicht“, ärgert sich der Geschäftsführer. Nachmittags beherbergte seine Tanzschule in dieser Zeit sogar Schülergruppen mit 25 Teilnehmern, denen als außerschulische Unterrichtsmaßnahme Hip-Hop beigebracht wird. „Aber: Dieselben Schüler duften bei uns keine Kurse besuchen. Das ist doch völlig absurd!“ Kein Wunder also, dass er sich von der Politik nach dem harten Lockdown mehr Gleichbehandlung und mehr Augenmaß wünscht. Zumal es bei ihm – anders als bei Sportvereinen – um die wirtschaftliche Existenz geht. „Wir hatten unter Corona nicht eine neue Anmeldung“, so Bothe. Lesen Sie auch Wegen Corona: Freizeit-Club „The Bolz“ pleite Neuer Corona-Lockdown: Keine Unterbrechung für Profisport Soccerpark macht dicht, Vereine auch? Deutlich heftiger traf die Corona-Krise dagegen die moderne Hallenfußballanlage The Bolz an der Vahrenwalder Straße. Sie ist nach nur einem Jahr für immer zu, weil zuerst die Einnahmen wegbrachen, dann der Vermieter kündigte. Der Betreiber steht vor einem riesigen Schuldenberg. Um die Existenz dürfte es bei Hannovers Sportvereinen nicht gehen, glaubt Roland Krumlin vom Stadtsportbund. „Ein Vereinssterben wird zwar seit Jahren prognostiziert. Doch auch Corona hat für keinen Verein in Hannover das Aus bedeutet“, sagt er. Einbußen bei den Mitgliederzahlen jedoch schon. Fünf bis zu sechs Prozent Mitgliederschwund erwartet der Sportbund. Der Niedersächsische Turnerbund dagegen rechnet mit zehn Prozent Verlust bei den Turnclubs. Einzelne Vereine schlugen dieses Jahr schon Alarm. Hannover 96 etwa. Innerhalb des Jahres sei man von 23.000 Mitglieder auf 22.000 gesunken. Härter trifft es den Turn-Klubb Hannover (TKH). Ende vergangenen Jahres hatte man 7100 Mitglieder, bis November sank die Zahl auf 6400. In der Vereinsspitze vermutet man die unklare Zukunftsperspektive als Motiv. Eine klare Perspektive – die wünscht sich auch Till Uhlig von der SpVg Döhren. „Die Politik muss deutlich mehr differenzieren, etwa einzelne Sportarten zulassen.“ Spätestens im Februar brauche es dieses Umdenken, wenn das Thema Lockdown dann nicht ohnehin erledigt ist. „Sonst werden viele Vereine doch noch zugrunde gehen“, glaubt er. Von Simon Polreich