Jahresrückblick: Corona und die Folgen für Hannovers Schulen

Auf den Tag genau sind es neun Monate und zwei Tage her, dass der größte Bildungs-Shutdown in der Geschichte Deutschlands verkündet wurde. Zufällig war es Freitag, der 13. Drei Tage zuvor hatte Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) diese radikale Maßnahme noch ausgeschlossen: „Ich halte es derzeit nicht für angemessen, alle Schulen für zwei Wochen zu schließen.“ Doch die Landesregierung musste sich schließlich der Dynamik des Coronavirus beugen: Kitas, Schulen, Universitäten machten zu. Wochenlang Hilfslehrer: Erst Ende April kehrten mit den Abschlussjahrgängen die ersten der mehr als eine Million Schüler in Niedersachsen zurück in den Präsenzunterricht – bis zum Sommer in geteilter Klassenstärke. „Hätte mir am 13. März jemand gesagt, dass mein Sohn erst Ende Juni wieder zurück in die Schule kann, ich hätte ihn für verrückt erklärt“, berichtet Merle G., Mutter eines Erstklässlers. Wochenlang mussten sie und ihr Mann Hilfslehrer spielen und parallel ihrer normalen Arbeit nachgehen. Ähnlich ging es Anne Jansen aus Groß-Buchholz von der Initiative „Familien in der Krise“. „Ich war fünf Monate im Homeoffice, habe in der Zeit meine Arbeitszeit reduziert, weil ich es sonst nicht geschafft hätte. Mein Mann hat normal weitergearbeitet“, erzählt sie. Die Betreuung der zwei Kinder, ein Zweitklässler und ein Kindergartenmädchen, blieben an ihr hängen. Ähnlich sah es in vielen Familien aus, zeigte eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Demnach trugen Mütter in die Hauptlast. Jansen sagt: „Ich hatte konstant ein schlechtes Gewissen, dass ich unseren Sohn nicht ausreichend beim Homelearning unterstütze, dass ich meine Arbeit nicht gut genug schaffe.“ Mit einem „richtigen Wumms“: Mit einem „richtigen Wumms“ traf der Bildungs-Shutdown auch Michael Bax und sein Kollegium an der Leonore-Goldschmidt-Schule in Mühlenberg. „Wir wurden ins kalte Wasser geworfen, hatten bis dahin keinerlei Erfahrungen mit Homeschooling“, so der Schulleiter. Schnell war klar, dass nicht alle Kinder selbstständig lernen können. „Das war eine nicht unerhebliche Gruppe, Kinder, denen es zu Hause an Hilfe und Unterstützung mangelt. Diese Schüler kamen teilweise gar nicht mehr vom Sofa hoch oder von der Konsole weg.“ Hilflos sah er die Schere der Bildungsgerechtigkeit auseinanderdriften. In Eigenregie organisierte die IGS Laptops und Tablets. „Aber man muss das auch bedienen können. Nur weil man digitale Geräte hat, ist die Bildung ja noch lange nicht digital, da braucht es eine andere Didaktik.“ Seit dem Sommer gibt es an der IGS deshalb einen „Thinktank“. Ein Lehrerteam macht sich Gedanken, wie digitaler Unterricht aussehen kann. Bax: „Wir dürfen nicht noch einmal so ins kalte Wasser fallen wie im Frühjahr. Beim nächsten Lockdown müssen wir dazugelernt haben. Bildung hat einen Wert, darf in Krisenzeiten nicht beliebig werden.“ Für die Bildung sei 2020 ein Minusjahr gewesen, sagt Erziehungswissenschaftler Manfred Bönsch: „Die Lernrückstände werden besonders in sozialen Brennpunkten bis zu ganzen Schuljahren gehen.“ Zu spät sei auf die Sicherung von Bildungsprozessen reagiert worden. „Kein Minister wollte die Sommerferien verkürzen, auch über Aufholmaßnahmen wurde nicht gesprochen. Zusätzliches Personal, einfallsreich installierte zusätzliche Lernorte, das alles wurde viel zu spät bedacht. Und jetzt werden schon wieder Ferien verlängert“, so Bönsch. Verstörend sei der naive Glaube gewesen, dass mit digitalem Lernen Präsenzunterricht zu kompensieren wäre. „Bildung als Persönlichkeitsentwicklung ereignet sich nur in der direkten Kommunikation, nicht am Bildschirm.“ Die Erkenntnis, dass die Schließungen im Frühjahr viele Kinder abgehängt haben, hat auch das Kultusministerium erreicht. „Damals war dieser harte Eingriff richtig, heute werden differenziertere Wege umgesetzt“, sagt ein Sprecher. Herausfordernd dabei ist weiterhin das Distanzlernen, wenn Unterricht in Schulen, so wie ab diesem Mittwoch, besser nicht mehr stattfinden soll. „An vielen Schulen werden bereits sehr gute Konzepte für das Distanzlernen gefahren, an anderen steckt das noch in den Kinderschuhen“, so der Sprecher. Man befinde sich in einem Prozess, in dem immer wieder nachgesteuert werden müsse. „Die Schließungen im Frühjahr und Einschränkungen im Schulalltag auch im laufenden Schuljahr haben uns gezeigt, dass wir im Digitalbereich Nachholbedarf haben, auch wenn zwischenzeitlich sehr viel passiert ist.“ Neun Monate nach dem ersten Shutdown fahren die Schulen erneut runter. Dieses Mal dürfen Eltern zumindest hoffen, dass Schulen und Kitas als Erstes wieder öffnen. Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) sagt: „Bildung hat Priorität, und dabei bleibt es auch.“ Lesen Sie auch Bildungsexperte zu Schulausfällen: Die Kinder haben vieles verlernt Bleibt die langfristige Schul-Planung in Niedersachsen auf der Strecke? Homeschooling? Kritik vom Schulleitungsverband an Kultusminister Tonne Homeschooling in Niedersachsen? Eltern und Lehrer kritisieren Kultusminister Von Britta Lüers