Mit 21 Stichen getötet: Warum musste Annika Brill sterben?

Sie glaubt daran. Dass sich wenigstens eines der vielen Fragezeichen in ihrem Leben auflöst. „Ich bin der festen Überzeugung, dass der Mörder gefasst wird“, sagt Regina H. – fast neun Jahre nach dieser Wahnsinnstat. Als ein Unbekannter 21-mal auf ihre Tochter einstach und sie tödlich verletzte. Regina H. möchte nicht mehr über den Fall sprechen, sie überlasst dies ihrem Anwalt Matthias Waldraff. Er weiß, wie sehr die Mutter leidet. „Das ist jeden Tag präsent, das ist immer da. Da helfen auch die verschiedensten Maßnahmen nichts, der Hass nicht, und auch die Gebete bringen einen nur bedingt weiter.“ Es bleiben immer die Fragen: Warum ist das meinem Kind passiert? Wer hat das getan? Und warum? Nur kurz zum Kiosk: Der 27. November 2011, es ist der erste Advent: Annika Brill verlässt gegen 19 Uhr ihre Wohnung in der Kohlrauschstraße nahe der Celler Straße (Mitte). Die 20-Jährige will nur zum Kiosk in der Nähe, Zigaretten holen. Es ist ein kurzer Weg. Sie telefoniert auf dem Rückweg mit einer Freundin – und die bekommt das Grauen, die Schreie, am Handy mit. Der Mann muss der 20-Jährigen in der Nähe der Haustür aufgelauert haben, sie hat keine Chance, er greift sie von hinten an. Der Täter sticht immer wieder zu – einmal trifft er das Herz. Annika verblutet, um 20.40 Uhr stirbt sie. Zeugen können nicht mehr helfen, sie können auch den Mann nicht aufhalten. Er flieht, zurückbleibt eine Personenbeschreibung, ein Phantombild. Aber der Täter wird nie ermittelt. Seitdem bleiben die Fragen: Wer? Und warum musste die junge Frau sterben? Die nach den Aussagen ihrer Mutter ein großes Herz hatte, die ehrenamtlich im Pflegeheim half, ein Patenkind in Burkina Faso unterstützte und den Traum hegte, sie in Afrika besuchen zu können. Die eine vierjährige Tochter hatte, mit der sie in der Kohlrauschstraße lebte. Trost im Glauben: Sie galt als fröhliche junge Frau mit einem großen Bekanntenkreis, sie begann gerade ein Studium an der Fachhochschule (Elektro- und Informationstechnik), sie engagierte sich in einer freikirchlichen Gemeinde. Ihre Mutter findet Trost im Glauben: „Ich weiß im Herzen: Annika ist im Himmel, sie lebt jetzt in einer besseren Welt“, schreibt sie ein Jahr nach der Tat. „Sie ist jetzt bei Gott, er kümmert sich um sie.“ So erzählen sie auch dem Enkelkind, das bei seinem Vater lebt. War der Messerstecher einer ihren vielen Bekannten oder sie nur ein zufälliges Opfer? „Es gibt sicher rationale Gründe, dass sie sich kannten und dass Emotionen eine Rolle bei dieser Tat spielten“, sagt der Jurist Waldraff. Aber sicher kann er sich da auch nicht sein. Er betreut bereits seit dem 19. Dezember 2011 die Angehörigen – musste aber bis August 2014 warten, bis er die Akten des Falles bekam. Polizei und Staatsanwalt stellten das Verfahren ein – alle Spuren führten die Beamten ins Nichts. Rund 1000 Personen wurden überprüft, von Hunderten wurde eine Speichelprobe genommen. Ein Treffer war nicht dabei. Polizisten liefen nach der Tat die Bahndämme auf der Suche nach der Waffe ab – erfolglos. Es wurde eine Belohnung von 5000 Euro ausgesetzt – kein Erfolg. Ein Jahr nach dem Mord wurden Handzettel verteilt – der entscheidende Hinweis blieb aus. Auch eine Spur in die Nähe von Rostock lief ins Leere. „Dann holt er mich und bringt mich um“: In einem Gespräch mit der Mutter sprach Annika im Frühling 2011 ganz plötzlich von einem Mann, der sie umbringen wolle. „Der hat gesagt, er kommt im November hierher und dann holt er mich und bringt mich um.“ So erinnert sich die Mutter an den Wortlaut ihrer Tochter und teilt dies der Polizei mit. Die junge Frau verriet aber nicht, wer der Mann war und warum er sie bedrohte. Das Gespräch endete für die Mutter ebenso überraschend wie es begann. „Ach Mama, mach’ dir keine Sorgen, ich komm’ schon klar.“ Es war eine von mehr als 1000 Spuren, die in den Akten verzeichnet sind. Und mit denen sich Waldraff nun im Auftrag der Familie beschäftigt. „Ich stoße da naturgemäß auf Auffälligkeiten, denen ich nachgehe.“ Welche genau, will er nicht verraten. Aber auch er ist „zu der Überzeugung gelangt, dass der Mörder gefasst werden wird“. Für die Mutter, die weiteren Angehörigen und die Freunde wäre das so wichtig. Aber Regine H. weiß auch: Egal, was juristisch noch folgt: „Als Opfer hat man immer lebenslang.“ Drei Zeugen hatten den Messerstecher kurz nach der Tat weglaufen sehen – er rannte von der Kohlrauschstraße über die Celler Straße Richtung Herschelstraße. Der Mann entkam, aber dank der Beobachtungen konnte eine präzise Phantomskizze angefertigt werden. Nach den Aussagen war der Mann damals zwischen 20 und 30 Jahre alt, etwa 1,80 Meter groß, schlank und sportlich. Er hatt kurze blonde Haare, trug eine viereckige Brille, wirkte unscheinbar. Ein Jahr später verteilten Beamte der Mordkommission „Annika“ Flyer rund um den Tatort mit dem Bild des Opfers. und der Skizze des Täters. In der Mitte des Zettels war der Grabstein zu sehen, der auf dem Friedhof in Stöcken steht. Auf dem steht in roter Schrift: „Saved by grace“ – „Gerettet durch Gnade“. Die Fahnder fragten: Wer hat sich auffällig intensiv mit dem Mordfall beschäftigt? Wer aus dem Wohnumfeld des jungen Opfers ist als verhaltensauffällig bekannt? Wer hat nach dem 27. November 2011 sein Aussehen oder die Verhaltensweise geändert. Wer ist unerwartet weggezogen? Das Phantombild brachte es im Jahr 2014 noch zu unerwarteter Berühmtheit – es wurde in einem Kölner Tatort in der ARD gezeigt. Aus Versehen. Vermutlich hat es ein Mitarbeiter aus dem Internet geladen – ohne zu wissen, dass es ein reales Bild ist. Diese acht Verbrechen sind noch nicht aufgeklärt Von Christian Lomoth

Hannover: Mordfall Annika Brill - Anwalt Matthias Waldraff untersucht neue Spuren