Hannover: Der Alltag eines Obdachlosen

10. Januar. Ein Corona-Sonntag mit bedecktem Himmel und lausigen drei Grad. Ideal für einen Nachmittag vorm Fernseher, ein paar Handy-Gespräche mit Freunden, ein Eis aus dem Gefrierschrank mit herrlich heißen Früchten aus der Mikrowelle. Jonny hat kein Sofa, keinen Fernseher, keinen Kühlschrank, keine Mikrowelle und kein Telefon – er hat nicht mal ein Dach über dem Kopf. Der 66-Jährige ist obdachlos, schläft unter einer Brücke und wärmt sich an Wintertagen wie diesen morgens im Kontaktladen „Mecki“ am Raschplatz auf. Normalerweise, die Einrichtung des Diakonischen Werkes hatte an diesem Wochenende zum ersten Mal in seiner jahrzehntelangen Geschichte als „niedrigschwellige Anlauf- und Vermittlungsstelle für Personen in besonderen sozialen Schwierigkeiten“ geschlossen. Der Leiter ist an Corona erkrankt, alle sieben hauptamtlichen und sechs ehrenamtlichen Mecki-Mitarbeiter mussten in Quarantäne. In dieser Woche sollen sie zurückkommen und den Schutz- und Ruheraum für Bedürftige wieder öffnen. Hündin Leica ist immer an seiner Seite: Wir treffen Jonny, der eigentlich Horst heißt, im Ruhe- und Begegnungsraum „Kompass“, wie der Mecki-Laden Teil des ambulanten Hilfesystems für die Ärmsten der Gesellschaft. Jonny ist in Begleitung, wie immer. Leica ist eine belgische Schäferhündin, hat schon mehr als zehn Jahre auf dem Buckel, und weicht Jonny zu keiner Sekunde von der Seite. Beide nehmen uns mit auf ihre alltägliche Runde. Erste Station ist Jonnys Platz unter der Raschplatz-Hochbrücke. „Mein Schlafzimmer“, sagt der gebürtige Celler, „hier liege ich, hier liegt Luka.“ Mit dem 31-jährigen Rumänen geht Jonny „auf Platte“, „der ist mein Sozialfall“. Von harten Drogen losbekommen hat Jonny ihn schon, nun will er ihn vom Dämonen Alkohol befreien. Jonny selbst trinkt so gut wie nie: „Alle halbe Jahr mal zwei Bier in einer Kneipe, das war’s. Bringt nur Ärger.“ Ohne Mecki ist das „Leben noch härter“: Station zwei ist der geschlossene Mecki-Laden. „Mein Esszimmer“, sagt Jonny: „Wenn du morgens aufwachst, hast du Hunger und Bock auf einen Kaffee. Beides gibt es hier.“ Wie auch ein Telefon für wichtige Behördenkontakte und kundige Helfer, „wenn dir was wehtut oder über Nacht die Läuse gekommen sind.“ Ohne Mecki-Laden ist „das Leben auf der Straße noch härter“, allerdings, das betont Jonny mehrfach: „Ich hab’s mir selbst ausgesucht.“ Mit einem alkoholkranken Vater und zehn Geschwistern aufgewachsen, verbrachte Jonny viele Jahre im Heim, ging bis zur 10. Klasse in eine Sonderschule, jobbte als Lagerarbeiter und Staplerfahrer und verließ vor vier Jahren seine letzte Wohnung: „Ich wollte frei sein und von niemandem gesagt kriegen, was ich wann zu tun habe.“ Nun ist er einer von offiziell 300 Obdachlosen in der Stadt. „Wir sind mehr“, glaubt Jonny, „mindestens 500. Die meisten kenne ich.“ Station drei ist der Weißekreuzplatz. „Mein Wohnzimmer“, sagt Jonny, „hier quatschen wir und hängen ab.“ Unter einem Baum stehen die beiden Einkaufswagen mit seinem Hab und Gut. Das Wertvollste sind ein Bundeswehr- und ein Grönland-Schlafsack, die bei Kälte ineinander gesteckt werden, zwei Decken und vier Iso-Matten, um auch Minusgrade draußen aushalten zu können. „Da drüben sind Russen und Polen, alles Säufer. Die kriegen sich oft mit den Türken in die Haare, ich halte mich da raus“, sagt Jonny, der gerne Fußball schaut: „Ein Freund hat einen Fernseher, ich mag Bayern München.“ Corona ist für Jonny kein Thema: „Wir sind abgehärtet.“ Wir gehen zurück zum Kompass, ich frage, was Jonny für Ziele hat: „Alt werden und die Rentenkasse schröpfen“, sagt er lachend, knapp 500 Euro bekommt er im Monat. Einen Teil gibt er Luka, „der hat noch weniger, wir auf Platte sind eine Familie“. Dann schaut er zu Leica, die seine große Liebe ist: „Wir machen zusammen noch ein paar Jahre, was.“ Keine Frage, eine Feststellung. „Ich bin zufrieden mit meinem Leben. Und lass erstmal wieder die warmen Tage kommen.“ Lesen Sie auch Weißekreuzplatz: SPD will Trinkerszene mit Spielplatz vertreiben Hannover: Ökumenische Essensausgabe startet auch im Corona-Winter Wegen Corona-Fall: Kontaktladen Mecki muss bis Montag geschlossen werden Von Christoph Dannowski