Hannover: Corona, die Auswirkungen und die Lehren für die Zukunft

Den Deutschen wird gern eine Vollkaskomentalität unterstellt. Die meisten von uns haben alles – oder immerhin genug zum Leben, die meisten von uns sind es gewohnt, ihre Bedürfnisse befriedigen zu können. Und zwar sofort – warten, aushalten ist nicht jedermanns Stärke. Die meisten von uns kennen zwar persönliche Probleme und Krisen, aber Naturkatastrophen wie Pandemien allenfalls aus dem Kino. Und nun das. „Ich meine, wir waren schlecht vorbereitet. Es gab keinen unmittelbaren Krisenplan, kein rechtliches wie parlamentarisch vorbereitetes Regelwerk und keine Modelle für die Frage, wie wir mit Alltagsfragen und -problemen umgehen.“ Das sagt Sozialpsychologe Andreas Zick, der an der Universität Bielefeld das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung leitet. Die Coronapolitik sei weitgehend experimentell, „wir sind wie viele andere Länder in eine schwere Krise hineingerutscht und haben dann angefangen, Regeln zu finden, die Arbeit und Bildung zu organisieren und das Sozialverhalten einzuüben“. Eine – allerdings indirekte – Vorbereitung habe es aber schon gegeben. „Das Land war strukturell gut aufgestellt. Die Entwicklung eines robusten Gesundheitssystems, die Stabilität der Demokratie, die vollen Staatskassen, all das hat geholfen.“ Krise hat Potenziale aufgezeigt: Nicht zu vergessen jene Menschen, die nicht lange herumlamentieren sondern anpacken. Oder wie es der Professor ausdrückt: „Die Krise hat ungeahnte Potenziale kenntlich gemacht. In unseren und anderen Studien hat sich gerade zu Beginn gezeigt, dass die soziale Hilfsbereitschaft unter den Menschen riesig ist. Viele Familien und vor allem die Frauen in der Gesellschaft haben die Krise der Beschulung, der Beziehungsarbeit und Pflege der sozialen Netzwerke gemeistert.“ Aber es fehlen Konzepte, die in die Zukunft weisen. „Es gibt kaum Modelle und Szenarien für die Nachkrisenzeit, schon gar keine, die die psychologischen und sozialen Langzeitfolgen bedenken, die aus solchen Risikolagen entstehen“, sagt Andreas Zick. „Wir hoffen auf den Impfstoff, um dann in den alten Modus der Entwicklung der Gesellschaft zu fallen: Wirtschaftswachstum um jeden Preis, zurück an den alten Arbeitsplatz, Bildung und Leistungsgarantie durch Beschulung, Frieden in der Gesellschaft durch Wahlen und ein Glaube, dass die Digitalisierung jetzt vieles regelt.“ Direktangriff auf die Demokratie: Doch während die einen noch auf die Rückkehr ins alte Leben hoffen, sind die anderen schon weiter und nutzen die Pandemie zum Direktangriff auf die Demokratie. „Die Verschwörungsgruppen sind gut darin, Menschen aufzuspüren und die Ohnmachtsgefühle auszubeuten“, konstatiert Zick. „Sie haben sie mit Hochgeschwindigkeit in ihre digitalen Netze eingesponnen.“ Denn Pandemien würden die Bildung von Querfronten und neuen Identitäten in Gruppen erleichtern, die „Eliten und das System“ angreifen wollen. Sie vereinigten sich in einer losen Gemeinschaft des „Widerstandes“ – wie das Beispiel der „Querdenker“ belege, tolerierten ihre Differenzen und inszenierten sich als Widerstandsgruppe, die um Grundrechte kämpfe. „Dass diese dann eher völkisch gemeint sind und durchsetzt sind von antisemitischen, rassistischen wie auch wissenschafts- und elitenfeindlichen Bildern, wird toleriert und immer wieder heruntergespielt.“ Bereits die Wirtschafts- und Finanzkrise vor etwas mehr als zehn Jahren habe dazu geführt, dass eine einwanderungsfeindliche und volksverherrlichende Haltung sowie Elitenkritik stärker wurde und antisemitische wie immigrantenfeindliche und andere Vorurteile in Deutschland zunahmen. „Damit müssen wir auch jetzt rechnen“. Wachstum oder Leben in Frieden? Allerdings mag uns Zick nicht nur mit deprimierenden Aussichten in das nächste Jahr gehen lassen. In seinen Fragestellungen für unsere Gesellschaft zum guten Schluss ist auch ganz viel Hoffnung enthalten, rührt sie doch an unsere uns tief innewohnende Menschlichkeit: „Wir können gern positiv enden und überlegen, was nach den Erfahrungen dieser außergewöhnlichen Zeit wirklich wichtig ist: Wachstum um jeden Preis, oder umweltgerechtes Leben in Frieden? Zusammenhalt? Wenn Zusammenhalt, dann wäre jetzt zu überlegen, was für den Zusammenhalt zentral ist: Zugehörigkeit, Gemeinschaft, gute Beziehungen, Teilhabe an Demokratie und ihre Institutionen, Vertrauen und ziviler Frieden durch eine konstruktive Lösung von Konflikten und eben nicht destruktive Lösungen. Letztlich ein Leben aller in Würde.“ Die Pandemie, sagt Andreas Zick, „hat kenntlich gemacht, wo Würde beschädigt ist. Das könnten wir kitten“. Lesen Sie auch Sorge um Hotelbranche für 2021 bei Dehoga-Sprecher Cord Kelle Corona 2020: Hannovers Gesundheitsamt am Limit NP-Jahresrückblick: Die Kultur in der Coronakrise Jahresrückblick: Corona und die Folgen für Hannovers Schulen Von Petra Rückerl